Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
ihn einfach ausgeblendet hat?
Das hab ich mich auch oft gefragt. Ich führe das auf sein ausgeprägtes Selbstwertgefühl zurück, auf seine sicher angeborene und erworbene Stressresistenz und auf seinen stabilen niedrigen Blutdruck, verbunden mit einem kaum aus der Ruhe zu bringenden Pulsschlag. Die Rhythmisierung seines Lebenslaufs wurde dann plötzlich durchbrochen: Der Wende-Punkt war ein End-Punkt. Für ihn!
Das hat ihm wahrscheinlich die Kraft genommen, eine zweite Biografie zu schreiben.
Durchaus möglich, dass der Sturz vom hohen Sockel, auf den er sich nicht selbst gestellt hat, einiges, nicht nur äußerlich, zerbrochen hat. Im Grunde genommen war er sehr bescheiden, aber unter der Undankbarkeit einiger Menschen und darunter, dass er plötzlich doch von einigen falschen Freunden so ignoriert wurde, hat er, seelisch und gesundheitlich, sehr leiden müssen. Wo war der Fallschirm, der den Sturz abfangen konnte?
Vielleicht ist er aus etwas ganz anderem zusätzlich abgestürzt, nämlich gar nicht aus diesem DDR-System, sondern dem System davor?
Da habe ich auch schon dran gedacht. Schließlich war es die zweite Diktatur mit Glücksverheißungen, deren absolutes Scheitern er erleben musste. Die heile Welt, gab es die nur in der Wissenschaft? Nein, auch hier gab es Fälscher, Scharlatane, Plagiatoren und eine Menge krimineller Manipulierer. Dagegen wetterte er mit der einen oder anderen Philippika, mit Streitschriften und auf Vorträgen. Da flogen die Fetzen des Verrisses den Zuhörern nur so um die Ohren. Hier merkte man, dass es Dinge gab, die ihn ganz persönlich kränkten und verletzt haben. Ein Ventil, durch welches er so manchen Dampf ablassen konnte. Aufsätze über Wissenschaftskriminalität, über Homöopathie und verlogene Heilsversprechen hat er mit Herzblut geschrieben.
Seine Bildung wäre doch ein Fallschirm gewesen.
Das habe ich auch vermutet, denn er hatte eine klassische und umfassende Bildung, um die man ihn nur beneiden konnte. In dieser Hinsicht hatte er noch das Glück, eine ihm durchaus ebenbürtige Frau zu haben, die konnte bildungsmäßig mithalten. Aber was ihm fehlte, das war eben die Resonanz. Er hatte noch so viel zu sagen, und man ließ ihn nicht mehr reden. Ihm fehlte das Publikum, die brillante Vorlesung, die große Show mit Fliege. Das ist nicht negativ gemeint, sondern das gehörte zu seinem Leben. Er war zuletzt wie ein Schauspieler ohne Bühne, allein in seiner Garderobe sitzend und auf einen Anruf wartend. Mit anderen Worten: Die Situation passte überhaupt nicht zu ihm.
Eine Sache, die er auch immer allen Leuten gezeigt hat, war dieses Foto, wo er in Remagen im Lager abgebildet ist. Warum war das so wichtig, das Foto? Wenn er Journalisten fünf Sachen gezeigt hat, dann war immer das Foto aus dem Gefangenenlager dabei.
Das war das berüchtigte Lager im Raum Sinzig/Kripp/Remagen. Meine Familie und natürlich auch ich wohnten damals in Sinzig, da wir in Köln ausgebombt waren. Hätte ich nur ahnen können, dass Otto Prokop wenige Kilometer entfernt in diesem Lager war!
Ich kann sein Trauma nachvollziehen, weil ich oft dorthin gegangen bin, um Brot über den Zaun zu werfen. Mit einem hübschen Bauernmädchen konnte man sogar recht nahe heran. Die bewachenden Amis waren Farbige, sie hatten Verständnis für die dortigen Gefangenen. Das Lager war eine Folge des »Werwolf«-Aufrufes der Nazis: Guerillakrieg bis zur letzten Patrone vom Kind bis zum Greis gegen die Amerikaner. Diese wiederum hatten keine Lust, einen Heckenschützenkrieg erleben zu müssen. Andererseits waren sie völlig überfordert, alle Kriegsgefangenen und die männliche Bevölkerung (Volkssturm!) unter Kontrolle zu bekommen.
Folglich trennte man ein großes Areal zwischen Remagen und Sinzig mit einem Zaun ab und transportierte tausende von gefangenen Soldaten und wehrfähigen Zivilisten auf dieses Feld, wo sie dann mehrere Wochen unter freiem Himmel verbringen mussten. Essen und Trinken waren Mangelware, die Sterblichkeit groß. Oft gab’s nur ein Essgeschirr, Wasser und ein bis zwei rohe Kartoffeln. Regen und Matsch sorgten für verheerende Zustände. Die Amerikaner waren überfordert, und die Bevölkerung durfte nicht helfen.
Einige wenige konnten abhauen und erzählten von unfassbaren Zuständen. Prokop empfand das als ein Riesen-KZ. Die Enttäuschung über die Alliierten war kaum in Worte zu fassen. Die Prophezeiungen der Nazis, waren die Realität geworden? Es wird wohl immer unbegreiflich bleiben,
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