SGK268 - Die Henker aus dem Unsichtbaren
Haaren, verschwitzt und
bis zu den Knöcheln barfuß in feuchter Erde, nur mit einem Nachthemd bekleidet,
er hätte die Frau für wahnsinnig halten müssen.
Aber sie war es nicht, noch nicht...
Sie beugte sich nach vorn und drückte mit dem Spaten langsam die
Leiche herum. Noch ehe sie in das von Erde verkrustete Gesicht sehen konnte,
ahnte sie, welche Gewißheit sie erhalten würde.
Die Kleidung war ihr nicht unbekannt. Das kleingemusterte, braune
Jackett, die einen Farbton hellere Hose...
»J - o - h - n... !« entfuhr es ihr
dennoch, obwohl sie wußte, was sie erwartete.
Sie lief nicht weg. Sie konnte nicht mehr.
Wie eine Statue stand sie, und alles in ihr war tot. Sie fragte
sich, ob sie überhaupt noch lebte und zu einer Empfindung fähig war.
Mechanisch fing sie an, die ausgegrabene Erde Schaufel für
Schaufel nach unten zu werfen und damit die kalte Leiche wieder zu bedecken.
Dann kehrte Lilian wie eine große Puppe, steif und mit maskenhaft
starrem Gesicht zum Haus zurück. Sie schien von unsichtbaren Händen geschoben
zu werden.
Alles, was sie seit der Nacht erlebt hatte ... die Begegnung heute
morgen, das Gespräch mit John... der grausige Fund ... drehte sich wie ein
Karussell in ihren Gedanken.
Dazu kamen eigene Überlegungen.
Johns Verhalten... das Verhalten jenes Spuks ... der Hilfe
brauchte ...
Sie hatten das Vermächtnis eines Geisterhauses übernommen und
mußten nun damit fertig werden. Lilian Showny war aus jenem Holz geschnitzt,
aus dem Frauen gemacht werden, die über ihren eigenen Schatten springen und den
Lauf der Welt beeinflussen können. Alles, was sie in ihrem Leben über
geheimnisvolle, okkulte Vorgänge gehört hatte, kam ihr nun wieder in den Sinn.
Gegen Teufelsspuk halfen Weihwasser und geweihte Kreuze ...
Es stimmte also, was man sich hinter vorgehaltener Hand über das
Leben Anthony Frederics erzählte. Man munkelte, daß er Umgang mit bösen Mächten
pflegte, daß die Festlichkeiten in seinem Haus einen anderen Grund hatten als
Feierlichkeiten, die andere Menschen begingen.
Frederic und seine Gäste verehrten den Leibhaftigen... Lilian
lachte plötzlich leise vor sich hin und schüttelte den Kopf.
»Ich werde dir helfen, John«, wisperte sie abwesend. »Ich glaube,
ich weiß jetzt, was du mir sagen wolltest. Es ist möglich, aus den
Verstrickungen, in die du geraten bist, wieder herauszukommen ... sicher ist
das möglich, ganz sicher ...«
Sie nickte, brachte den Spaten wieder in den Geräteschuppen
zurück, öffnete überall im Haus die Vorhänge und stellte sich erst unter die
Dusche. Danach fühlte sie sich wie neu geboren.
Sie kleidete sich an, frühstückte in Ruhe und zog sich dann salopp
an: Lose fallender Pulli und hauteng anliegende Blue Jeans.
Als nächstes durchsuchte sie ihren Schmuckkasten. Darin mußte ein
geweihtes Kreuz liegen, das sie als Kind von einer Tante zum Geburtstag
geschenkt bekam. Jahrelang hatte sie es nicht mehr getragen. Sie besaß es aber
noch. Das wußte sie genau.
Doch - sie fand das Kreuz nicht.
Lilians Augen verengten sich.
Sie stellte den Schmuckkasten auf den Kopf und nahm jedes einzelne
Stück in die Hand - es war verschwunden. Hier im Haus gab es Diebe. Dabei war
es nur von ihnen beiden bewohnt!
Die wenigen Klienten, die bisher im Büro gewesen waren, hatten
keine Gelegenheit gefunden, ins Schlafzimmer zu gehen und dort den
Schmuckkasten unter die Lupe zu nehmen. Und selbst wenn sie jemand eine solche
Tat unterstellte, wäre wohl kaum damit zu rechnen gewesen, daß dieser Jemand
ausgerechnet ein verhältnismäßig wertloses Schmuckstück mitnahm. Da gab es
wahrhaft kostbarere Stücke. Die erkannte man auch, wenn man kein Fachmann
war...
John?
War er der Dieb?
Ihre Miene wurde hart. Nach dem, was schon in diesem Haus
geschehen war, in diesem von einem Henker errichteten Palast, in dem Orgien und
Schwarze Messen zu Ehren des Teufels gefeiert wurden, war auch mit so etwas zu
rechnen.
Sie packte alles weg.
Da schlug das Telefon an.
Das laute Klingeln riß sie in die Wirklichkeit zurück.
Der Apparat stand in Johns Arbeitszimmer. Dort hatte es auch schon
gestanden, als Sir Anthony das Haus bewohnte.
Der Fernsprecher war ein vorsintflutliches Modell, von dem John
ganz begeistert war.
»Bei Willex, hallo .. ?« meldete sich Lilian Showny. Es war ein
Klient, der dringend um ein persönliches Gespräch ersuchte. Es ging um eine
wichtige Erbschaftsangelegenheit, die er gern mit John Willex unter vier Augen
besprochen
Weitere Kostenlose Bücher