SGK284 - Nacht im Horror-Hotel
zu machen. Sie wollte sich wieder melden,
sobald sie alles in Ordnung gebracht hatte .. . Tag
für Tag warteten wir auf eine Nachricht. Ich machte mir Sorgen. Eine Woche war
vergangen, und noch immer hatte
Christine sich nicht gemeldet. Dann erhielten wir einen Brief. Er kam nicht von
ihr, sondern aus dem »Haus der Barmherzigen Schwestern« in Erquy .
Dorthin hatte man Christine eingeliefert...« »In ein - Krankenhaus ?«
»Nein - in eine Irrenanstalt!«
*
Bedrücktes Schweigen herrschte nach
diesen Worten.
Das dunkle Ticken der Uhr aus dem Nebenzimmer
erfüllte die Luft. Es klirrte leise, als Madame Louson das Glas nahm und mit dem Ehering dagegen stieß.
»Was war geschehen ?« fragte Claudine mit belegter Stimme.
»Das wissen wir heute noch nicht. Wir
wissen nicht mal, ob Christine eine Nacht oder sieben Nächte in dem
unheimlichen Hotel, in dem das Böse haust, ausgeharrt hat, ehe man sie fand.
Völlig verstört und splitternackt lag sie am Straßenrand vor dem Hotel. Sie war
entkräftet, griff die Leute an, die sich ihrer annahmen ,
spuckte und trat nach ihnen. Ihr ganzes Verhalten deutete daraufhin , dass sie nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Deshalb
kamen diejenigen, die sie in dem bejammernswerten Zustand fanden, auf den
Gedanken, sie könne nur aus der Anstalt geflohen sein. Erquy liegt etwa zwanzig Kilometer vom Cap entfernt. Christine muss in der Anstalt noch mal einen lichten Moment gehabt haben, in dem sie ihren
Namen und ihre Adresse angeben konnte. Dann fiel sie endgültig in geistige
Umnachtung. - Ich habe Christine danach gesehen und bin zu Tod erschrocken.
Behalten Sie Christine so in Erinnerung, wie Sie sie kennen, wie sie hier auf
dem Bild zu sehen ist. Nach ihrem heutigen Aussehen würden Sie sie nicht mehr
wiedererkennen .«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Claudine Solette mitfühlend. »Und es ist sicher, dass ihr Zustand mit dem Hotel zusammenhängt? «
»Für mich ist es sicher. Oder haben Sie
eine Erklärung dafür, wie ein junges, gesundes Mädchen plötzlich in Wahnsinn
verfällt? Das Hotel ihres Onkels war der auslösende Moment. Das Böse ist dort zu
Hause, und niemand kann ihm widerstehen. Es stimmt, was sich diejenigen
zuflüstern, die seit langem ahnen, dass es in dem
Hotel spukt. Man muss es meiden. Wer auch nur eine
einzige Nacht dort verbringt, ist verloren. Christine behauptet noch heute, dass Nacht für Nacht ihr toter Onkel Louis durch das Haus
gewandert sei ... dabei liegt er begraben auf dem Friedhof von Matignon .. «
*
Da war mehr zu Sprache gekommen, als
sie zu erfahren erwartet hatte.
Claudine Solette blieb länger, als sie wollte. Gegen einundzwanzig Uhr verließ sie die Wohnung,
den Kopf voller Gedanken und Informationen.
Was war Gerücht, Dichtung, was
Wahrheit?
Sie hatte ursprünglich in Dinan über
Nacht bleiben wollen. Doch die Erkenntnisse, die sie gewonnen hatte sie
bewogen, ihren Plan zu ändern.
Sie fuhr weiter, Richtung Matignon , am Friedhof vorbei, auf dem Louis de Calenque ruhte.
Sie nahm sich vor, bei Tageslicht noch
mal hier vorbeizukommen. Bei Nacht und Nebel Calenques Grab einen Besuch abzustatten, wäre ein sinnloses Unterfangen gewesen.
Claudine blieb auch nicht in Matignon .
Sie fuhr an der Kreuzung ab und
benutzte dann die holprige, schmale Straße Richtung Cap. Ihr war eine
phantastische Idee gekommen. Irgendwo musste sie die
Nacht verbringen. Warum nicht in Christine Lousons Hotel,
wenn sie sich schon in der Nähe befand?
Zwar sollte das Hotel nicht geöffnet
sein und völlig leer stehen, wie Madame Louson ihr
mitgeteilt hatte, aber auch in einem leer stehenden Haus konnte man Unterkunft finden, wenn niemand etwas dagegen hatte.
Claudine Solette war grazil und wirkte beinahe zerbrechlich. Man traute dieser kleinen,
quirligen Frau nicht zu, dass sie schon in
Straßengräben und ohne jeglichen Schutz mitten im Wald übernachtet hatte, wenn
es die Situation von ihr erforderte.
Leer stehende Hotels waren im
Vergleich dazu komfortabel...
An der nächsten Wegkreuzung entdeckte
sie das Schild. Die Scheinwerfer ihres Autos erfassten die verblasste Aufschrift: >Hotel de Louis<...
»Na also«, murmelte Claudine.
Auf holprigem Pfad ging es noch ein wenig
bergauf. Dann hinter einer Kurve sah sie das kastenartige einsame Gebäude im
dräuenden Nebel.
Claudine Solettes Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Entweder hat sie mir einen Bären
aufgebunden, oder wir haben die ganze Zeit über einander
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