Shadow Falls Camp - Erwählt in tiefster Nacht: Band 5 (German Edition)
Geist rüber. Das offene Haar der Frau war strähnig und ging ihr fast bis zur Taille. Sie trug wieder dasselbe blutige Nachthemd.
Und sie sah … tot aus. Mehr denn je.
Kylie verstand es nicht. Wenn man als Geist die Wahl hatte, tot auszusehen oder eben nicht ganz so tot, wieso entschied sich dann überhaupt jemand für die erste Variante?
»Nein, mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin ja schon tot. Siehst du?«
Sie zog den Stoff des Nachthemds glatt und zeigte Kylie mindestens ein Dutzend blutiger Schlitze in dem weißen Stoff. Es sah so aus, als hätte jemand wie besessen auf sie eingestochen.
»Das ist ja furchtbar!« Kylie musste kurz wegschauen. »Wer hat dir das angetan?«
Der Geist antwortete nicht, stattdessen starrte er mit großen Augen die Löcher in seinem Kleid an.
»Eigentlich ist es gar nicht so schlimm. Um ehrlich zu sein, solltest du dir lieber um dich selbst Sorgen machen. Denn wenn du nicht bald auf mich hörst, endest du so wie ich. Tot.«
»Auf was soll ich denn hören? Dass du mir sagst, ich soll jemanden umbringen?« Kylie runzelte die Stirn.
»Genau.«
Die Frau hatte den Blick weiterhin auf ihr Nachthemd gerichtet.
»Und tu nicht so, als wär es so grauenhaft. Ein Leben zu nehmen ist nicht das Schlimmste, was man tun kann.«
»Okay, nur mal so aus Neugierde, wie viele Menschen hast du umgebracht?«
Jetzt hob der Geist den Blick und schien über die Frage nachzudenken. Was verdammt lange dauerte. So als müsste sie im Kopf durchzählen. »Es stimmt also, oder? Du hast mehr als nur einen getötet?«, platzte es aus Kylie hervor.
»Ich komm so auf paarundzwanzig, aber ich glaub, ich hab welche vergessen. Einige haben mir nicht viel bedeutet.«
»Was warst du denn? Auftragskiller … äh, Auftragskillerin?«
»Nein, nicht wirklich. Ich hab jedenfalls nichts für meine Arbeit bekommen. Ich hab mich nur um ein paar Probleme von jemandem gekümmert. Und um ein paar meiner eigenen.«
Plötzlich hatte die Frau Blut an den Händen. Sie hielt sie hoch und starrte sie an. Blut tropfte von ihren Fingerspitzen auf ihr sowieso schon beflecktes Hemd und auf den beigen Teppich. Der Geruch von Kupfer ließ Kylie beinahe würgen. Sie war froh, dass sie den Geruch im Moment nicht mochte.
»Versuchst du, mich mit in die Hölle zu nehmen? Geht es dir darum? Ich hab gehört, dass Geister, die in die Hölle kommen sollen, das manchmal probieren. Aber ich geh da nicht hin, und ich weigere mich, dir zu helfen und jemanden umzubringen. Also gib es einfach auf, okay?« Kylie schloss die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken, so wie Holiday es ihr beigebracht hatte. Mit dieser Art Meditation konnte Kylie verhindern, dass ein Geist die Kontrolle über sie erlangte oder sie irgendwohin mitnahm, wo sie nicht hin wollte.
Kylie spürte, wie die Kälte nachließ, aber die Worte des Geistes flüsterten weiter in ihrem Kopf.
»Ich will nicht, dass du in die Hölle kommst. Ich will, dass du jemand anderen dorthin schickst.«
»Hau ab! Hau ab! Hau ab!«, murmelte Kylie sowohl laut als auch in ihrem Kopf. »Ich werde niemanden für dich töten. Auf keinen Fall. Niemals. Ich nicht.«
Endlich war die Kälte vollständig verschwunden, und Kylie atmete erleichtert auf. Doch der Atemzug wurde zu einem erschrockenen Quietschen, als es plötzlich laut an ihrem Fenster knackte.
Kylie setzte sich ruckartig auf und betrachtete das Fenster. Sie konnte nichts Auffälliges entdecken.
Sobald die erste Panikwelle abgeebbt war, fiel ihr der Vogel ein, den sie vor einer Weile wieder zum Leben erweckt hatte. War ihr der kleine Kerl etwa bis hierher gefolgt?
Kylie schwang die Beine aus dem Bett und ging zum Fenster. Das Bild von dem blutverschmierten Geist war noch zu frisch in ihrem Kopf, deshalb zog sie die weißen Vorhänge extra vorsichtig beiseite. Wie aus dem Nichts tauchte eine Grimasse hinter der Scheibe auf.
Kylie schrie auf.
5 . Kapitel
»Kylie? Geht es dir gut?« Sie hörte die Stimme ihres Großvaters in dem Moment, als sie das Gesicht am Fenster erkannte.
Jenny.
Das Chamäleon-Mädchen, das sie vorhin angesprochen und sich so seltsam verhalten hatte. Was machte sie bloß an Kylies Fenster? Was wollte sie denn so spät noch?
Jenny schaute vielsagend in Richtung Schlafzimmertür und schüttelte vehement den Kopf. Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit weit aufgerissenen Augen bettelte sie Kylie stumm an, ihrem Großvater nicht zu sagen, dass sie hier war.
»Ja, alles okay. Ich hab nur schlecht
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