Shadow Guard: Wenn die Nacht beginnt (German Edition)
Handschrift der Notiz. Eindeutig stammten beide von einer männlichen Hand.
Aufgewühlt von der Begegnung mit der Gräfin und der Wahrscheinlichkeit ihrer Beziehung mit Lord Black zog Elena eilig die Nadeln aus ihrem Haar und schlüpfte in ihr Nachthemd. Sie faltete das, welches Selene beiseitegeworfen hatte, und legte das Kleidungsstück zurück in die Schublade.
Viel zu erregt, um zu schlafen, wählte sie ein medizinisches Lehrbuch von ihrem Lesestapel und ließ sich auf dem Fenstersitz nieder. Sie zog sich eine Decke über die Beine und versuchte, das Gefühl von Lord Blacks Armen, die sie umfingen, aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Ebenso wie die Erinnerung an die Intensität seines Blicks, als er ihren Mund betrachtet hatte.
Eine Bewegung am Rand des Innenhofs erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie wischte über die beschlagene Scheibe, um deutlicher sehen zu können. Eine Kutsche, die inmitten von Nebel und Dunkelheit fast nicht zu sehen war, kam schnell von den Ställen zur vorderen Seite des Hauses gefahren – sicher, um Selene zu dem Treffen mit dem Verfasser des mysteriösen Schreibens zu bringen.
Elena lehnte sich in die Kissen zurück und schlug das Kapitel auf, das sie als Letztes gelesen hatte.
Sie fand nur eine gähnende Lücke.
Das ganze Kapitel über Pasteurs Theorie zur Abtötung von Bakterien in seiner französischen Originalfassung war aus der Bindung gerissen worden.
St. Botolph’s mächtiger Turm ragte in den Londoner Nachthimmel auf. Archer lehnte an dem kühlen Putz und starrte hinab in das Labyrinth des East End. Das Sims unter ihm und die Luft um ihn herum vibrierten unter dem sonoren Crescendo der Orgel aus der Kirche, deren Klänge ein unter Schlaflosigkeit leidender Geistlicher flehentlich zu den Prostituierten des Viertels schickte, die noch immer auf den Bürgersteigen der Gassen rund um die Kirche herumgingen, um Fremden ihre verruchten Dienste anzubieten.
Die Buden von Aldgate hatten schon vor Stunden geschlossen, aber der Geruch von Fisch, Kohl und Blut lag noch in der Luft. Gaslampen sprenkelten Lichtinseln in die Durchgangsstraßen, zu dunkel und zu weit voneinander entfernt, um mehr als eine sporadische Beleuchtung zu bieten. Früher einmal waren an dieser Stelle nichts als endlose Felder gewesen und später eine Festungsmauer. Seit damals hatten die Straßen eine ganze Parade von Königen gesehen, ganz zu schweigen von Pestilenz, Hinrichtungen und Feuer. Und immer hatte es eine ständig wachsende Bevölkerung gegeben und die Verbrechen, die aus abgrundtiefer Armut entstanden.
Er richtete seinen silbrig schwarzen Blick auf eine Ratte, die durch die Gosse huschte, und ein Schauer der Erregung durchlief ihn.
Wer wird mich jetzt noch fangen?, hatte der Ripper in einem seiner Briefe gehöhnt.
Vielleicht konnten sie es nicht. Aber Archer würde es tun. Wie hatte er vergessen können, und sei es auch nur für die Zeitspanne einer Stunde, was er war? Obwohl er die Zurückgezogenheit und den Luxus vorzog, die man mit Wohlstand kaufen konnte, gehörte er hierher, unter die Niedrigsten der Niedrigen. Er war kein Salonlöwe. Kein Vormund, Liebhaber oder Freund.
Er war ein Jäger. Ein Killer.
Die Nacht gehörte ihm.
Seltsam, dass sie in einer Zeit wie jetzt, da er sich der Menschheit so fern fühlte, in seinen Gedanken war. Er schloss die Augen und kostete das Gefühl des Winds aus, der ihm das Haar aus der Stirn und von seiner erhitzten Haut wehte. Elena war ein goldener Schimmer Sonnenlicht für ein Geschöpf, das sein unsterbliches Leben in Dunkelheit verbrachte – und eine reizvolle Versuchung für einen, der in letzter Zeit unzufrieden und rastlos geworden war und nach etwas jenseits der Grenzen seiner Existenz suchte.
Und so starrte er mit einer gewissen Belustigung über sich selbst und mit hohen Erwartungen in die Wüste aus Unrat, die vor ihm lag. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hungerte ihn danach, zu jagen und seine Beute zu schlagen, denn Jack the Ripper – wie sich der Killer in seinen jüngsten Briefen an die Behörden treffend selbst genannt hatte – war etwas Besonderes. Archer hatte dieses Gefühl schon am Hafen gehabt, als er in London eingetroffen war, und er hatte seinen Argwohn in der Asservatenkammer in Scotland Yard bestätigt gesehen. Stand ihm womöglich eine echte Herausforderung bevor?
Konnte Jack auf dem Weg sein zu transzendieren?
Es war so lange, lange her. Er lächelte schwach und kletterte im Schatten vom Sims herunter. Er klammerte sich
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