Shadow Guard: Wenn die Nacht beginnt (German Edition)
los.
Marks Stiefel krachten schwer auf die Pflastersteine. Er fluchte, blauäugig und zornig, und stieß sich von der Mauer ab. Er hatte seinen Abendmantel und sein Halstuch abgelegt und stand nur in Hosen, einem weißen Leinenhemd und Hosenträgern da.
»Dies ist meine Jagd, alter Mann. Gehen Sie zurück, woher Sie gekommen sind.«
»Sie sind abberufen worden.«
»Wahrscheinlich auf Ihren Befehl hin.«
»Da muss ich Sie enttäuschen. Ich verrate meinesgleichen nicht.«
»Ich auch nicht, Herr Lehrer, ganz gleich, was Sie glauben.«
Archer sah etwas über Marks Schulter – ein eckiges P war in den dunklen Sockel der alten Warenhausmauer eingeritzt.
NTSTOP.
Eine Erinnerung daran, dass er keine Zeit für dieses Geplänkel hatte.
»Ich bin nicht gekommen, um Freundlichkeiten auszutauschen. Ich bin hier, um eine misslungene Vollstreckung zu beenden.«
»Ich habe nicht versagt«, knurrte Mark. »Obwohl ich weiß, dass Sie es sich wünschen.«
»Dass der Ripper uns weiterhin an der Nase herumführt, ist ein Affront gegen uns alle. Nicht nur gegen Sie, Mark, sondern gegen jeden Schattenwächter. Und jetzt haben Sie sich mit Ihrer Weigerung, den Ruf der Ahnen zu befolgen, in Schwierigkeiten gebracht.«
»Man will, dass ich mitten in einer Jagd abbreche. Ich werde es nicht tun.« Mark beugte sich vor, Auge in Auge und Nase an Nase mit dem Unsterblichen, der einst sein Mentor und größtes Vorbild gewesen war. »Ich brauche einfach ein wenig mehr Zeit.«
Trotz der Schroffheit der Erklärung hörte Archer doch ein inständiges Flehen heraus. Er schwankte in seinem Ärger. Früher einmal waren er und Mark so etwas wie Freunde gewesen.
»Sie sagen, Sie brauchen mehr Zeit?« Er schüttelte den Kopf. »Zeit für ihn, die Schattenwächter noch weiter zu entehren? Zeit für ihn, wieder zu töten?«
Marks Halsmuskeln spannten sich sichtlich an. »Seit seinem letzten Überfall sind Wochen vergangen. Er hat sich versteckt.«
»Sie sind ein Schattenwächter, Mark. Sie bringen ihn zur Strecke, zerren ihn zeternd und um sich tretend aus seinem Loch, wo auch immer er sich versteckt, und schicken ihn in die Hölle. Schnell und effizient. Das ist Ihr Job.«
»Dieser hier ist anders, Black. Anders als alles, was ich je erlebt habe.«
Archer erinnerte sich daran, dass auch er zuerst das Gleiche geglaubt hatte.
»Und doch ist er hier. Jetzt. Ganz in der Nähe.«
Marks Augen wurden schmal. »Unmöglich. Wenn Sie ihn gespürt hätten, hätte ich das auch getan.«
Der schrille Ton einer Pfeife durchbrach die Stille der Nacht.
»Mörder!«, erklang ein ferner Ruf. »Mörder!«
5
Archers Kopf fuhr herum. Eine Welle der Furcht überflutete ihn, deren Gewalt nur durch eine größere Menschenmenge verursacht worden sein konnte. Er ließ Mark stehen, verschmolz mit den Schatten und raste auf den Ausgangspunkt der Welle zu. Unzählige Sterbliche, Männer und Frauen, strömten in einen engen Durchgang zwischen zwei großen Gebäuden. Hohe, hölzerne Tore klapperten gegen die Mauern, als sich die Menge hindurchzwängte. Rufe erfüllten die Nacht: »Polizei!« und »Mörder!«, in den ungezählten Sprachen des Bezirks. Archer entging das protzig gekritzelte M auf der Außenmauer nicht. Auch er huschte hinein.
In dem kleinen Innenhof flackerten Kerzen und Laternen. Ihr dürftiges Licht enthüllte weder Archer in seiner Schattengestalt noch den hochgewachsenen Amaranthiner, der ihm folgte. Ein Pony, angeschirrt an den hölzernen Karren eines Gemüsehändlers, scheute nervös, als Archer vorbeiging. Er schlängelte sich durch die Menge und bahnte sich energisch seinen Weg in das Zentrum der Furcht. Dann sah er sie. Eine Frau lag auf ihrer linken Seite, das Gesicht von der Menge abgewandt.
»Bleiben Sie zurück«, raunte Archer Mark zu und warf einen warnenden Blick über die Schulter, nur um zu sehen, wie Selene durch die Menge schlüpfte und neben ihren Zwillingsbruder trat.
Archer ging neben dem Opfer in die Hocke. Die Frau lag in einer Pfütze, ein Anstecksträußchen aus roten Rosen und Frauenhaarfarn an die Brust ihrer Jacke geheftet. Eine Anzahl süßer Bonbons lag um sie herum verstreut, ihr kleines Tütchen hatte sie immer noch fest in der Hand. Ihr Körper verströmte noch Wärme, aber ihr sterbliches Leben hatte ein Ende gefunden, ein grimmiges Ende.
Er hatte gewusst, dass es noch einen weiteren Buchstaben geben würde, und er entdeckte das Zeichen durch das mit Blut vermischte Regenwasser: ein winziges E, in einen
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