Shadow Touch
wurden.
Moskau. Artur hasste diese Stadt.
Mikhail würde das vermutlich als Symptom von Arturs anhaltender Unfähigkeit, seine Kindheit zu bewältigen, interpretieren. Und damit läge er auch ganz richtig. Artur hatte Komplexe, und er fürchtete sich nicht, das zuzugeben. Ebenso wenig, wie er bereit war zu erwähnen, dass er auch gute Zeiten erlebt hatte. Seine Jugend war gut gewesen, bis zur Pubertät. Sein Leben mit Tatyana war ebenfalls schön verlaufen. Auf alles andere hätte er gern verzichtet.
Zeit half immer. Zeit für ein anderes Leben, mit Menschen, die besser waren, als er es verdiente. Das gab ihm eine Perspektive. Doch sie reichte nicht aus, um ihn zu veranlassen, nach Moskau zurückzukehren und dort zu leben. Moskau war, wie man sagte, die schönste Geliebte, die sich ein Mann nur wünschen konnte, aber wehe, man widersprach ihr. Wie jede leidenschaftliche Frau könnte sie einem aus einer Laune heraus die Eier abschneiden.
»Wie wunderschön«, sagte Elena. Es hatte geregnet, der Bürgersteig glänzte silbrig von Feuchtigkeit. Die Luft roch frisch, und am Himmel schimmerte ein blasser Regenbogen. Artur musste zugeben, dass es ein guter Tag war, wenn man die Stadt zum ersten Mal sah. Auf ihn wirkte sie noch genauso wie früher, bis auf ein paar Wolkenkratzer mehr, die sich in den Himmel erhoben.
Elena trug die frische Kleidung, die Zugbegleiterin Gogunov für sie geschnorrt und gereinigt hatte. Sie wirkte zwar immer noch blass und schwach, und obwohl ihre Prellungen allmählich verblassten, war noch ein Nachhall davon auf ihrem Gesicht zu erkennen: von den Malen, die ihr der Arzt und Charles Darling zugefügt hatten.
Trotzdem mischte sie sich unauffällig unter die anderen Frauen auf der Straße, die allesamt so aussahen, als hätte sie ein hartes Leben bereits von ihrem sechsten Lebensjahr an altern lassen. Manchmal erhaschten sie Blicke auf Mädchen, in deren staksiger Art zu gehen noch die Jugend durchschimmerte, aber das Leben in Russland war hart. Es schliff die Absätze der Seele ebenso schnell ab, wie man atmete, und die Last wurde selten leichter.
Selbst in diesem Augenblick sah Artur vor dem Bahnhof eine Bande von zerlumpten, hart wirkenden Jugendlichen, die an einer Wand lehnten. Taschendiebe, Trickbetrüger, Strichjungen; Artur war einmal einer von ihnen gewesen. Er empfand Mitgefühl, wenn auch nicht genug, um etwas wirklich Dummes zu tun, zum Beispiel zu versuchen, ihnen zu helfen. Er kannte das Spiel ebenso gut wie sie. Wenn er sich ihnen näherte, sahen sie lediglich eine Bedrohung oder eine Gelegenheit in ihm. Sie würden ihm niemals genug vertrauen, um die Hilfe anzunehmen, die er ihnen bieten konnte. Außerdem war er auch nicht gerade in einer aussichtsreichen Lage, den Hilflosen zu helfen. Vermutlich hatten sie sogar weit bessere Chancen, das Ende dieser Woche zu erleben, als er.
Amiri und Rik fielen zwar auf, aber dagegen konnten sie nichts tun. Sie hatten ebenfalls neue Kleidung, dank Zugbegleiterin Gogunov, die es sich zur besonderen Aufgabe gemacht hatte, aus den Fundkisten alles für sie zu sammeln, was es ihnen bequemer machen konnte. Artur hatte ihr er-heblich mehr Geld gegeben, als er vorgehabt hatte. Er mochte Freundlichkeit.
Niemand fragte sie, wohin sie wollten. Sie hatten den Plan immer und immer wieder durchgekaut, und obwohl Artur versucht hatte, die anderen davon abzuhalte, mitzumachen, war es am Ende vergeblich gewesen. Elena weigerte sich schlicht, von seiner Seite zu weichen, und Amiri und Rik schlossen sich ihrer Haltung an, aus welchem Grund auch immer. Neugier vielleicht, oder sogar ein gewisses Ehrgefühl? Rik jedenfalls schien gereift zu sein. Vielleicht lag es auch nur daran, dass sie nicht wussten, wo sie hätten hingehen sollen, und etwas Kameradschaft, Gesellschaft, selbst im Angesicht der Gefahr, war besser als gar keine. Das konnte Artur sehr gut nachvollziehen.
Deshalb überraschte ihn auch das Glücksgefühl nicht sonderlich, das ihn durchströmte, als vor ihm eine Krähe auf den Pflastersteinen landete. Ihre goldenen Augen glänzten. Elena sah ihn amüsiert an. Amiri und Rik hockten sich hin und starrten konzentriert auf Konis kleine Krähengestalt.
»Sei gegrüßt«, sagten beide wie aus einem Mund. Die Krähe neigte den Kopf und schlug mit ihren schwarzen Flügeln.
Als Koni wieder aufstieg, folgte die Gruppe seinem verschlungenen Weg. Sie schlenderten mit einer Gelassenheit über die grauen Straßen, die die Dringlichkeit, die sie
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