Shadow Touch
geschult war. Deshalb legte Elena die Pistole auf das breite Bett, sobald Anna sie und die anderen in die kleine Suite im zweiten Stock geführt hatte. Das dunkle, tödliche, schwere Metall versank in der zerschlissenen golddurchwirkten Tagesdecke. Elena trat zum Fenster und rieb sich die Hände.
»Lady«, sagte Rik ganz ruhig, »Sie sind verrückt.«
»Nur ein wenig«, stimmte Elena ihm zu.
»Das war sehr gut gespielt.« Amiri untersuchte das Zimmer, spähte hinter den Spiegel und kontrollierte die Lampenschirme. Wonach er suchte, wusste Elena nicht. Abhörwanzen? Bomben? Ungeziefer? »Der Mann wäre bereit gewesen, uns zu erschießen, das habe ich in seinen Augen gesehen, aber sein Geruch passte nicht dazu. Er wollte eigentlich nicht töten.«
»Sie konnten ihn riechen?« Das faszinierte Elena - und irritierte sie auch ein wenig. Sie wollte gar nicht so genau wissen, wie sie für eine Person mit einem übernatürlichen Riechorgan roch.
»Ich bin Gestaltwandler«, erklärte Amiri schlicht. »Meine Nase ist gut, ganz gleich, welche Gestalt ich angenommen habe.«
Elena sah Rik an. »Und Sie?«
»Ich bin im Meer heimisch. An Land sind meine Sinne eingeschränkter.«
»Trotzdem gehören Sie zum gleichen Volk, hab ich recht?« Elena lehnte sich an die Wand und betrachtete die beiden Männer, ihre Haare und ihre goldenen Augen. Sie sahen zwar menschlich aus, doch sie spürte ihre fremdartige Ausstrahlung. Und erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit ihnen: Fell, von goldenem Licht umhüllt, das sich in Haut verwandelte; der schnelle Wechsel von Delfin zu Mensch. Das war eine Magie, die selbst ihre kühnsten Träume überstieg. Elena staunte, dass sie es so gut aufnahm, so leicht akzeptierte. Vielleicht lag es an den Umständen: noch eine verrückte, unmögliche Sache mehr, die sich zu all dem Verrückten und Unmöglichen dazugesellte. Möglicherweise war sie ja selbst verrückt, und das hier war lediglich eine gigantische Halluzination - in Wirklichkeit aber befand sie sich noch in Wisconsin, in irgendeinem Krankenhausbett, und lag im Koma.
Jedenfalls würde sie sich anpassen. Akzeptanz war ihre einzige Option, vor allem jetzt, da es sich so anfühlte, als könnte sie nur noch auf eines bauen, darauf, dass alles vollkommen unberechenbar war. Erwarte das Unerwartete. Und bereite dich entsprechend vor. Was bedeutete: gar keine Vorbereitung. Sondern einfach nur vollkommen im Augenblick leben und wie eine Rodeo-Königin auf dem wilden Lauf der Ereignisse reiten.
Artur würde ein Cowboyhut gut stehen.
Das Bild war so absurd, und es kam vor allem so überraschend, dass sie beinahe laut gelacht hätte. Sie drehte sich hastig zum Fenster herum, um ihr Gesicht vor den Gestaltwandlern zu verbergen. Es fiel ihr schwer, ihr Lächeln zu unterdrücken, und sie wollte den beiden Männern nicht erklären müssen, was sie in ihrer derzeitigen Lage so amüsierte. Sie war entführt, missbraucht und erschöpft worden - was konnte daran so lustig sein?
Dennoch klammerte sie sich an diese flüchtige Fröhlichkeit wie an eine wunderschöne Gedichtzeile, die wie ein Wunder über ihre Lippen kam: eine Rezitation perfekter Worte, perfekter Bedeutung. Artur. Artur Loginov.
Du bist verknallt, gestand sie sich ein. Elena und Artur, die in einem Baum sitzen. Und sich K-Ü-S-S-E-N.
Na klar. Was auch immer. Sie konnte nichts dagegen tun, dass Artur sie glücklich machte, dass schon der bloße Gedanke an ihn ihr Kraft gab. Was nicht bedeutete, dass sie etwa bedürftig wäre. O nein. Es war etwas anderes. Sie konnte es nur nicht genau beschreiben.
»Sie sind bestimmt froh, wenn Sie wieder zu Hause sind«, sagte sie. Rik hockte auf dem Rand des Bettes, von der Pistole so weit entfernt wie möglich. Er wirkte sehr jung; Elena hielt ihn für höchstens achtzehn. Diese Erkenntnis überraschte sie. In der Einrichtung, draußen, in der Wildnis, hatte er so viel älter gewirkt.
Amiri schlenderte zu dem anderen Fenster und genoss die Sonne, die durch das schmierige Fenster schien. Seine gelassene Anmut gefiel ihr. Irgendwie wirkte er beruhigend auf sie.
»Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt nach Hause zurückkehren kann.« Er legte die Fingerspitzen auf das Glas; er hatte schlanke, lange Hände und elegante Finger. Seine Haut schimmerte in einem subtilen Goldton. »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Elena? In Ihrem früheren Leben werden Sie nie mehr in Sicherheit sein. Wenn Sie nach
Hause gehen, wird das Konsortium Sie
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