Shadowblade: Dunkle Fesseln: Roman (Knaur HC) (German Edition)
Kiste von außen öffnen konnte.
Sie wand sich in dem beengten Raum, riss einen Müsliriegel auf und schlang ihn herunter, um anschließend mit einer Orangen-Gatorade nachzuspülen. Gleich darauf folgten drei weitere Riegel. Sobald ihr schlimmster Hunger gestillt war, kramte sie ihr Handy hervor. Seit sie in Julian gewesen war, hatte sie es nicht wieder angestellt. Einen Moment lang starrte sie es an. Dann schaltete sie es ein und rief Giselle an.
Die Hexe ging beim ersten Klingeln ran. »Wo bist du? Was ist passiert?«, wollte sie wissen.
»Irgendwo in San Diego. Man hat mich gesehen.«
Giselles Schweigen sprach Bände über ihre Wut. »Geht es dir gut?«
Ihr Tonfall war schneidend. Max verzog den Mund. Es war nichts Persönliches. Giselle wollte nur nicht, dass sich ihr preisgekrönter Pitbull kurz vor dem Konklave weh tat.
»Bestens.«
»Was ist dort vorgefallen?«
Max umriss die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Dabei ließ sie aus, wie sie der Wintergreisin Nahrung gegeben hatte und wie sie Alexander nicht getötet hatte, um einen sauberen Abgang hinzulegen.
Eine Weile erwiderte Giselle nichts. Dann: »Ich lasse Oz jemanden schicken, der dich abholt. Wo bist du?«
Max war versucht, sie einfach nach dem GPS-Signal ihres Telefons und des Tahoes suchen zu lassen, aber sie schluckte ihren Trotz herunter. Im Augenblick gab es für sie nichts zu gewinnen. Außerdem verursachten ihr die Bannzauber bohrenden Schmerz und verlangten, dass sie so schnell wie möglich an Giselles Seite zurückeilte. »An der 805 in Claremont. Vor einer Mall.«
Bevor Giselle noch etwas sagen konnte, klappte Max ihr Telefon zu. Sie holte Luft und sog den wunderbar fettigen Geruch von McDonald’s Würstchen-Ei-McMuffins ein, vermischt mit dem Duft von Starbucks-Kaffee. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie riss einen weiteren Energieriegel auf und kaute gleichgültig darauf herum.
Sie brauchte weitere zehn Minuten, bis sie sich dazu durchringen konnte, das Hagelkorn hervorzuholen. Es lag schwer in ihrer Tasche, ein winterlicher Samen in der zunehmenden Hitze, der nicht schmolz und sich nicht veränderte. Schließlich nahm Max es heraus und drehte es zwischen den Fingern. Es sah nicht nach viel aus. Ein weißer Klumpen aus Eis. Doch es roch nach Göttlicher Magie. Max schloss die Hand darum und rutschte tiefer, damit sie den Kopf an die Kistenwand lehnen konnte.
Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln und über die Wangen. Das konnte nicht wahr sein. Diese Chance . Diese Hoffnung. Es Giselle endlich heimzuzahlen und frei zu sein.
Wenn die Zeit kommt schluck es. Sei dir gewiss, was du willst. Du wirst es erhalten. Als sie den Atem einsog, klang es wie ein Schluchzen. Ihre Hände auf den angezogenen Knien ballten sich zu Fäusten, während sie den Hinterkopf an die Stahlwand der Kiste schlug.
Unweigerlich wanderten Max’ Gedanken zurück zu jener Nacht. Dreißig Jahre waren vergangen, und trotzdem war die Erinnerung kristallklar. Es war ein warmer Donnerstagabend im September gewesen, und sie hatte gerade an einer Hausarbeit für ihren Wildbiologiekurs geschrieben. Ihre Freundin und Mitbewohnerin Giselle hatte sie von ihren Hausaufgaben fortlocken wollen. Nur zwei Stunden. Du bist sowieso fast fertig. Mir ist langweilig. Was folgte, war eine großzügige Mischung von Getränken – donnerstags gab es zwei zum Preis von einem im Mr. B’s, einer nahegelegenen Bar. Harvey Wallbanger. Tequila Sunrise. Singapore Sling. Colorado Bulldog. Long Island Iced Tea. Danach tanzen. Wild und leidenschaftlich. Und schließlich kamen die Fragen. Rein hypothetisch. Lächerlich. Fantastische Gedankenspiele. Was, wenn du nicht sterben müsstest? Was, wenn du nicht alt und eingefallen und fleckig werden müsstest? Was, wenn du niemals schwach oder krank wärst? Was, wenn du wie eine Katze klettern könntest? Was, wenn du schnell wie ein Wolf rennen könntest? Was, wenn du so gut riechen und hören könntest wie eine Fledermaus? Würdest du das wollen? Würdest du ja sagen? Würdest du?
Klar.
Und dann …
Max erwachte Monate später und war kein Mensch mehr.
Sie lag in einem seltsamen Bett in einem fensterlosen Zimmer und konnte sich nicht einmal ansatzweise erinnern, wie sie dorthin geraten war. Das Licht war zu grell, und körperlich war sie total erschöpft. Giselle war da. Sie lächelte. Hocherfreut. Sie hüpfte auf und ab wie ein achtjähriges Mädchen an seinem Geburtstag und redete wirres Zeug. Wusstest du, das du Hexenblut hast?
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