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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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geklaut. Deshalb beschließen die »Meisters«, die Proben nicht in der Stadt, sondern draußen im Wald abzuhalten, nachts im Wald.
     
    Nachts im Wald herrscht Oberon, der Elfenkönig. Er teilt sich die Herrschaft mit seiner Gemahlin Titania. Sein Atem streicht über die Bäume und Sträucher, über die Farne und die eifrigen Käfer. Titania dirigiert die Elfen, lenkt ihre Bahnen, setzt ihr Gewisper in Dur und Moll. So ergänzen sich König und Königin.
    In der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, streiten Oberon und Titania allerdings. Das kommt manchmal vor. Alle paar hundert Jahre einmal. Die Königin hatte plötzlich eine andere Meinung. In welcher Sache? In einer Elfensache. Wenn wir sterblichen Ehepaare streiten, dann sagt man: Der Haussegen hängt schief. Wenn Fürst und Fürstin des Elfenreichs streiten, dann ist die Harmonie der Natur gestört.
    Das mag Oberon nicht, das kann er nicht leiden. Streit ist nicht notwendig. Es ist nicht notwendig, daß Titania eine andere Meinung hat. Was soll es überhaupt Meinungen geben in der Natur? Was für eine Meinung hast du über den Apfel? Darf ich deine Meinung über den Tannenzapfen hören? Hat Oberon etwa Meinungen? Er kennt nur Notwendigkeiten. Oberon mag nicht streiten. Aber er liebt Titania, und er möchte ihr nicht befehlen. Er will ihr demonstrieren, wohin es führt, Meinungen zu haben.
    Oberon erinnert sich: Einst sah er den kleinen Gott Amor. Der war verliebt. Und wie verliebt er war! In eine Jungfrau, die Beeren pflückte im Wald. Oberon sah das sonst so fröhliche, pausbackige Gesicht des Amor abgezehrt, die Augen voll Gier, sah, wie ihm die Hände zitterten. Amor zog einen Pfeil aus seinem Köcher, wollte ihn auf die Jungfrau abschießen. Aber seine Hand zitterte so sehr, daß er nicht traf. Die Jungfrau merkte von all dem nichts. Sie pflückte Beeren, drei ins Körbchen, eines ins Mündchen. Statt die Jungfrau zu treffen, traf der Pfeil eine Blume. Es war das kleine Stiefmütterchen. Oberon untersuchte die Blume und stellte fest, daß sie durch Amors Pfeil zu einer Zauberblume geworden war. Wenn man ihren Stengel auspreßte und den Saft einem Schlafenden aufs Augenlid träufelte, dann verliebte er sich nach dem Aufwachen in das nächste Wesen, das er sah. Ganz gleich, ob dieses Wesen ein Mensch oder ein Tier war.
    Oberon ruft seinen Diener. Puck heißt der Diener. Er ist durchaus ein guter Geist, aber eben nicht nur ein guter Geist. Er ist auch ein böser Geist, aber eben nicht nur ein böser Geist. Er ist vor allem ein unberechenbarer Geist. Puck sagt über sich selbst: »Bevor ein Mensch sich auch nur einmal um seine eigene Achse drehen kann, habe ich schon viermal die ganze Welt umrundet.«
    »Mein Puck«, sagt Oberon. »Such mir die Zauberblume! Bring mir ein Sträußchen!«
    Puck rast los.
    Oberon hat den Puck gern um sich. Er ist Feuer und Wasser, Wurzel und Ast, Sturm und Stein, Frost und glühender Augustnachmittag. Er ist Natur im Zeitraffer. O beron hat ihn gern um sich, aber lange hält er ihn nicht aus. Oberon liebt die Natur in Zeitlupe. Die Blüte, die sich am Abend schließt. Das Moos, wie es an den Windschattenseiten der Bäume hinaufwächst. Der Stein, der im Bach vom Wasser poliert wird. Nach einer Minute mit dem Puck benötigt Oberon eine Stunde für sich allein. Aber heute nacht wird Oberon diese Stunde nicht gegönnt. Die Ruhe der Nacht und des Waldes wird gestört.
     
    Was für ein Lärm! Der Choleriker und die Unglückliche sind unterwegs. Demetrius und Helena. Die beiden sind unterwegs, um die Glückliche und den Phlegmatischen zu stellen. Demetrius stapft vorneweg, Helena hatscht hinter ihm drein.
    Einen Zorn hat Demetrius! Einen Kopf, rot wie ein Brennhafen. »Du!« schnaubt er. »Du hast mich doch nur in den Wald gelockt, damit du mit mir allein sein kannst! Wo ist da ein Lysander, ha? Wo ist da eine Hermia? Ich sehe nichts! Ich höre nichts!«
    »Aber Hermia hat es mir doch gesagt …«, wimmert Helena.
    »Du lügst doch nur!«
    Den Lärm macht Demetrius ganz allein. Helena trägt nichts dazu bei. Er flucht und stampft auf, beschimpft das Lämmchen, das hinter ihm hertrottet – obwohl er gar nicht schnell geht und sie ganz leicht neben ihm gehen könnte, was natürlich bei weitem weniger Mitleid auslöste. Aber Mitleid kennt Demetrius nicht. Und ein Benehmen hat er auch keines. Er schimpft und schimpft.
    »Ich glaube, du hast noch nie einen Menschen so beschimpft wie mich«, klagt Helena .
    »Ja, das glaube ich

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