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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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stehen vor der Hütte. Sie verneigen sich vor dem König. Sie richten Grüße aus von ihrer Königin, von Cordelia. Sie legen einen Mantel um die Schultern des Greises. Sie geleiten den König und seinen Narren ins französische Lager.
    Lear fällt vor Cordelia auf die Knie, bittet sie um Vergebung. Ein kleines großes Glück dürfen die beiden teilen. Ein großes Glück, weil es die Liebe ist; ein kleines Glück, weil es nur kurz dauert.
     
    Edgar ist allein. Er steht vor seiner Hütte und blickt über die Heide, die der Sturm verwüstet hat. Da sieht er eine Gestalt. Wer kann das sein, der eine solche Nacht im Freien verbringen mußte? Edgar sieht die blutigen Augen ringe. Und als er sich der Gestalt nähert, erkennt er seinen Vater; den Mann, der ihm so schmerzhaftes Unrecht angetan hat. Wer hat ihm solche Schmerzen zugefügt?
    Aber Edgar gibt sich nicht zu erkennen. Er tut so, als wäre er ein Hirte.
    »Was ist mit dir, alter Mann?«
    »Ich suche die Felsen von Dover.«
    »Was willst du dort?«
    »Ich will einen Schritt tun.«
    »Nur einen Schritt willst du tun?«
    »Nur einen Schritt.«
    Edgar nimmt den Arm seines Vaters. »Ich werde dich führen.«
    Aber nicht zu den Felsen von Dover führt er ihn. Er führt ihn im Kreis über die Heide. Schon zum zweiten Mal münden sie in ihre Fußstapfen.
    Gloster klagt. Er erzählt dem Fremden sein Leid. Daß er dem Falschen geglaubt hat. Daß er den Richtigen verstoßen hat. Daß die schmerzenden Augenhöhlen den Schmerz des Gewissens nicht wettmachen können.
    »Sind wir bald an meinem Ziel?«
    »Nur wenige Schritte noch, dann stehen wir auf den Klippen von Dover.«
    »Aber der Weg müßte doch schon längst aufwärts gehen.«
    »Aber er geht ja schon längst aufwärts.«
    »Ich merke es nicht.«
    »Du merkst es nicht? Setz einen Fuß vor den anderen! Merkst du jetzt, daß der Fuß, den du vor den anderen setzt, höher ist?«
    »Wenn du es sagst. Ja, jetzt merke ich es.«
    »Und hörst du nicht, wie unten das Meer an die Klippen schlägt?«
    »Ich höre es nicht.«
    »Und wie die Möwen schreien? Hörst du es nicht?«
    »Wenn du es sagst. Ja, jetzt höre ich es.«
    Es gibt nichts zu hören. Da dehnt sich nur Heide um sie herum. Kein Fels ist da, keine Möwen sind da, keine Klippen. Sie gehen im Kreis. Bereits zum fünften Mal ziehen sie über ihre eigene Spur. Nun stehen sie mitten im Gras. Gloster meint, er stehe auf den Felsen von Dover, und unter ihm, weit unter ihm, schreien die Möwen und schlägt das Meer gegen die Klippen.
    »Tritt zurück«, sagt Gloster. »Damit ich meinen Schritt tun kann.«
    Edgar tritt zurück, und Gloster springt – springt über den Fels von Dover, springt ins Meer. Aber da ist kein Fels, und da ist kein Meer, und sein Sprung ist nur ein trauriger, lächerlicher, komischer, verzweifelt tragischer Hupfer. Gloster liegt hilflos am Boden, meint, er sei tot, meint, so schaut es drüben aus. Daß er drüben blind ist, wie er herüben blind gewesen war, daß es drüben riecht, wie es herüben gerochen hat, nämlich nach dem Gras der Heide.
    Edgar verstellt abermals die Stimme, tut diesmal, als wäre er ein Fischer. »Was ist denn das! Hat man so etwas schon gesehen! Da fällt der Mann von den Klippen, und nichts tut ihm weh!«
    Edgar nimmt den Gefallenen in seine Arme. So viel Liebe ist in dieser Umarmung, zu viel Liebe, als daß sie sich verstecken ließe. Und Gloster erkennt seinen Sohn Edgar. Und sein Herz bricht.
    Frankreich hat die Schlacht verloren. Das französische Heer wurde aufgerieben. Edmund, der Oberbefehlshaber der englischen Truppen, hat gesiegt. Cordelia und Lear sind seine Gefangenen. Gefährliche Gefangene, die eine große, unberechenbare Anhängerschaft haben. Edmund hat deshalb Meuchler gedungen. Sie sollen die beiden in ihren Zellen aufsuchen und sie erdrosseln.
    Edmund hat neue Ambitionen. Daß er sich mit dem Titel eines Grafen von Gloster zufriedengeben könnte, das ist längst vorbei. Warum nicht König werden? Lebt da einer, dem die Natur mehr Talente zur Verwaltung vermacht hätte? Nein. Der Bastard als König. Warum nicht? Und wer wird seine Königin sein? Das kann er sich aussuchen. Sind ja beide verrückt nach ihm, Goneril und Regan. Edmund entwirft nicht überhitzte Pläne. Das ist nicht sein Stil. Er vertraut auf den Zufall. Der Zufall ist der Plan der Natur. Und der Zufall schafft Gelegenheiten. Und Edmund wird sie nutzen.
    Da wird gemeldet, Goneril sei tot. Sie sei ermordet worden. Von Regan. Regan hat es nicht

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