Shane - Das erste Jahr (German Edition)
Gekreische wurde etwas gedämpft.
„Guten Abend.“
Die Mutter zuckte zusammen. Sie drehte sich um. „Oh, ich habe dich gar nicht gehört.“
Der Mann gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Kein Wunder bei dem Lärm hier.“
Er deutete mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer und legte seine Tasche auf einen der Hocker.
„Stell dir vor, heute habe ich Shane erzählt, wie wir uns kennengelernt haben.“
Der Vater kam mit einem Bier aus dem Kühlschrank zu ihr zurück. „Haben wir das nicht schon öfters? Besonders du, mindestens hundert Mal.“
Die Mutter blickte ihn an. „Ja, aber diesmal war es anders. Sie schien sich richtig dafür zu interessieren!“
„Hm.“, machte der Vater und blickte in die Zeitung.
„Was?“
„Nix!“
„Manfred!“
Der Vater sah von der Zeitung auf. „Ich will ja nicht deine schöne Vorstellung zerstören, doch vermutlich ist für eine Siebenjährige der Teil von
verbrannten Stadtmauern interessanter als der, in dem sich seine Eltern kennengelernt haben.“
„Ach, halt die Klappe!“
„Hat es nicht damals auch so bei Mark angefangen? Dass er sich so brennend für die Stadt interessiert hat?“
„Ja. Doch weißt du, was mir heute bewusst geworden ist?“
„Was?“
Die Mutter drehte sich zu ihm, das Buttermesser in der Hand. „Sie zieht sie in ihren Bann. So wie sie es bei uns damals getan hat. Die Stadt wirkt wie ein Zauber auf die Kinder. Weißt du noch, wie verliebt wir damals waren? Ineinander und in diese Stadt?“
Der Vater blickte sie an. Sie schwiegen kurz. Dann nickte er. „Ja. Das weiß ich noch.“ Er lächelte.
Die Mutter zog die Augenbraue hoch. „Und jetzt sieh uns an. Nichts als kalte Verachtung ist davon geblieben.“
„Ähhh.“
Die Mutter winkte mit dem Messer ab. „Ich meine nicht uns, sondern unsere Liebe für die Stadt.“
„Dann ist ja gut.“
„Wir wollen nicht, dass unsere Kinder sich dort herumtreiben, keiner will mehr dort wohnen; weißt du, wie viele Häuser ich im letzten Monat verkauft habe?
Wenn die Siedlungen außerhalb nicht wären, wäre ich bald arbeitslos.“
„Gertie.“ Der Mann hatte die Zeitung aufgeschlagen. „Du übertreibst wie immer. Du verkaufst keine Innenstadthäuser, weil keine frei sind!“
„Ja, und das ist die nächste Frage! Wer wohnt dort? Unsterbliche?“
„Vermutlich.“, nuschelte der Vater hinter dem Papier.
„Sehr witzig.“
„Gertie. Ich weiß eigentlich nicht, worüber wir gerade reden.“
„Ach.“ Wieder schnitt das Messer durch die Luft. „Ich wünschte nur, für uns hätte die Stadt noch immer ihren Zauber.“
„Das hat sie! Doch wir sind ihr entwachsen. Diese geheimnisvollen düsteren Ecken sind jetzt nichts als stinkende dunkle Gassen. Das ist alles.“
Die Mutter verzog das Gesicht.
Shane holte tief Luft. Sie sah ihn an. Sie kniff die Augen zusammen. Dieser dämliche Ball. Sie drehte sich um und zuckte zusammen. Vor ihr stand Rotbein. „Na na na, Fräulein Shane. Wir werden doch jetzt nicht aufgeben?“
Shane blickte trotzig in die Sägespäne. „Ich kann das nicht.“
Rotbein nickte langsam. „So so.“ Er ging an Shane vorbei auf den Ball zu.
Shane drehte sich zögernd um. Rotbein sah sie stumm an.
Shane ließ die Schultern hängen und kam näher. Sie streckte ihre Hand aus. Rotbein machte keine Anstalten, sie zu halten. Shane runzelte die Stirn. Erwartete dieser Typ in Strumpfhosen etwa, dass sie allein auf das runde Monster stieg?
„Du wirst auf den Ball steigen und durch die Manege laufen, und zwar so, wie du es gelernt hast, Shane.“ Er trat näher an sie heran.
„Du musst dein Gleichgewicht finden, Shane, sonst bist du verloren!“ Er schaute sich kurz hastig in dem Zelt um und trat dann wieder zurück.
Shane blickte ihn immer noch zweifelnd an und stellte sich vor den Ball. Sie seufzte. Dann hob sie ein Bein, stemmte sich hoch und riss die Arme zur Seite.
Sie stand, doch drohte gleich wieder zu fallen. Sie atmete schnell.
„Keine Wut, Miss Shane! Gleichgewicht, Balance!“
Shane blickte geradeaus, suchte sich einen Punkt in der Zeltwand, konzentrierte sich darauf, und darauf, was Rotbein immer wieder zu ihnen, den Kindern gesagt hatte. „Kein Stillstand, Bewegung, immer tippeln, immer tippeln.“
Shane machte kleine schnelle Schritte, der nachgebende Bogen unter ihren Füßen wehrte sich erst, dann gab er ihr nach, bewegte sich nach vorn, ließ sich von ihr führen. Sie tippelte immer weiter, lenkte den Ball durch die Manege, nahm die
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