Shanera (German Edition)
religiöser Rituale. Das ist nicht gegen Dich gerichtet, Zela. Aber es zeigt, dass wir uns nur mit uns selbst beschäftigen. Wir leben in einer großen Welt, und auch wenn wir sie ignorieren, wird sie eines Tages zu uns kommen. Und wir werden nicht darauf vorbereitet sein.
„Ich habe jedenfalls genug von diesem Dorf. Ich weiß nicht, wie Ihr das aushaltet, aber das ist Eure Entscheidung. Zu gehen, ist die meine. Ich hoffe, Ihr respektiert das.“
Shanera schloss ihre Rede und blickte ihre Verfolger herausfordernd an.
Zela wusste nicht sofort, was sie antworten sollte. Auf eine so fundamentale Kritik an ihrer Lebensweise war sie nicht vorbereitet. Sie hatte eher mit persönlichen Gründen für die Flucht ihrer Freundin gerechnet, irgendwelche Probleme, auf die man versuchen konnte, eine Antwort zu finden. Aber dies? Unsicher blickte sie zu Koras, aber der schwieg und sah nachdenklich auf den Boden. Sie musste die Sache selbst in die Hand nehmen.
„Shanera, ich kann verstehen, dass Du Dich manchmal eingeschränkt fühlst. Aber die Vorschriften unserer Gemeinschaft haben doch einen Sinn. Das Dorf kann nicht überleben, wenn jeder tut, wozu er gerade Lust hat. Wie sollen wir über die Winter kommen? Und sollen wir vielleicht unsere Götter verleugnen und unser Leben führen, ohne sie zu respektieren?“
„Das habe ich nicht gesagt. Aber meinst Du, die Götter denken in so kleinen Dimensionen, dass sie sich durch endlose Rituale und Beschwörungen beeindrucken lassen? Wir sollten sie ehren, in dem wir etwas aus dem Leben machen, das uns von ihnen geschenkt wurde.
„Und was die Vorschriften angeht: wenn wir nicht nach so starren Regeln vorgehen, sondern unsere Möglichkeiten besser nutzen würden, hätten wir viel mehr Zeit für andere Dinge. Hast Du einmal darüber nachgedacht, dass die ganzen Reglementierungen vielleicht nur einem Teil unserer so genannten Gemeinschaft nutzen?“
„Diese Gemeinschaft hat Dich groß gezogen, hast Du das vergessen?“, erwiderte Zela. „Was hat das Dorf alles für Dich getan, über viele Sonnenzyklen hinweg? Und Du dankst es uns, in dem Du uns allen den Rücken kehrst?“
Jetzt war es an Shanera, nach einer Antwort zu suchen. Sie zögerte.
„Ja, Du hast recht. Das Dorf hat viel für mich getan. Aber ich habe, seit ich dies hier trage“, sie deutet auf ihre Brosche, „auch schon einiges für das Dorf geleistet. Und ich fühle mich nicht verpflichtet, den Rest meines Lebens einem System zu opfern, das sich überlebt hat, nur weil es so freundlich war, mich als Kind nicht verhungern zu lassen.“
„Es war ja wohl noch mehr dabei, als nur Dich nicht verhungern zu lassen. Wenn Deine Eltern …“
„Hör auf! Lass meine Eltern aus dem Spiel.“ Shanera rang nach Worten. „Du weißt ja nicht, wie es ist, keine Familie mehr zu haben! Immer ein fremdes Kind zu sein. Von einer Gastfamilie nie richtig akzeptiert zu werden. Unsere ach so großartige Gemeinschaft kann mir meine Eltern niemals ersetzen. Wer weiß, vielleicht wären sie noch am Leben, wenn sie nicht gerade an jenem Tag irgendeinen verdammten Auftrag zum Jagen bekommen hätten …“
Sie brach ab und blickte zu Boden, blinzelnd und mit zusammengepressten Lippen. Ein paar Mal atmete sie tief durch, sprach aber nicht weiter. Zela schluckte. Solange sie nun schon mit Shanera befreundet war, so etwas hatte sie noch nie von ihr gehört. Offenbar hatte sie einiges vor ihr verborgen gehalten. Man wusste nie, wie es in jemandes Seele aussah, das wurde ihr plötzlich klar. Sie bemühte sich um eine Antwort.
„Shanera, es tut mir leid, dass es so schwer für Dich war. Aber ich habe Dich immer akzeptiert. Du bist meine Freundin! Bitte komm zurück … Wir werden eine Lösung finden.“
Shanera blickte auf und sah Zela an. Dann lächelte sie traurig.
„Nein, Zela. Ich weiß, dass Du es ehrlich meinst. Aber Du kannst nichts ändern, nicht die wichtigen Dinge. Es tut mir leid. Leb wohl.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und war in dem kleinen Felsdurchgang verschwunden.
„Shanera! Warte! Komm zurück!“ Zela wandte sich zu Koras, der wie sie aufgesprungen war. „Sie ist weg! Was sollen wir jetzt tun?“
„Wenn wir ihr folgen wollen … Der Weg nach oben führt da hinten lang. Ich fürchte nur, bis wir oben sind, wird sie längst weit weg sein.“
„Wir haben sie schon einmal eingeholt, wir können jetzt nicht aufgeben. Los, komm schon!“
„Was ist, wenn sie recht hat?“
„Was? Was redest Du
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