Shanera (German Edition)
dauerte nicht lang – sie waren aber bereits ein beträchtliches Stück tiefer gekommen – und sie konnten von einem Felsabsatz aus einen in der Wand verlaufenden Weg unter sich erkennen. Noch ein paar Schritte weiter und sie sahen die flatternden Wimpel, die an der Kreuzung den Weg wiesen. Diesmal hatten sie allerdings Schwierigkeiten, die Hinweise zu deuten, denn die Dörfer in dieser Gegend, ihre Symbolik und Hinweissprache kannten sie nur vom Hörensagen.
„Wir müssen noch tiefer, denke ich.“, sagte Shanera schließlich. „Das hier ist ein Hauptweg, der zum nächsten Dorf führt, der nutzt uns nichts.“
Zela stöhnte. „Mist. Ich dachte schon, wir hätten diese Kletterei hinter uns. Bald fange ich doch noch an, Mäh zu machen.“
„Wir rupfen Dir ein paar saftige Grasbüschel, wenn es soweit ist.“, erbot sich Koras. Er handelte sich für sein freundliches Angebot einen Schlag auf den Oberarm ein. „Au! Lass das!“
+
Das Wetter, das in den vergangenen Tagen ihres Weges eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte, verhielt sich jetzt unauffällig. Bewölkt, aber wenig Wind und kein Regen.
Als sie weiter abwärts stiegen, begann die Landschaft sich unmerklich zu verändern. Der Pflanzenbewuchs wurde dichter, der Boden lockerer und es ging weniger steil nach unten. Irgendwann stellten sie fest, dass der Boden nun auch zu ihren Seiten abzufallen begann. Sie waren auf einer Art abfallendem Grat angelangt, der die Große Wand mit dem Vorberg, ihrem Ziel, verband.
Nebel- und Wolkenfetzen zogen über und unter ihnen vorbei. Shanera fühlte sich an jenen Moment des Schwebens am ersten Tag erinnert. Sie blieb stehen und bedeutete ihren Begleitern, es ihr gleich zu tun und den Blick schweifen zu lassen. Sie standen auf einem schmalen Pfad, links und rechts niedriges Buschwerk auf inzwischen steil abfallendem Grund. Wolkenstücke schwebten vor ihnen und auf ihren Seiten über die in der Tiefe verborgene Landschaft, die in fernem Grün durchschimmerte. Ein milder Wind strich um ihre Köpfe.
Es war still bis auf das leise Geräusch des über den Grat wehenden Windes und gelegentliche, entfernte Vogelrufe. Shanera sah Zela an.
„Es ist schön hier.“, sagte diese schließlich. „So friedlich.“
Mehr wurde nicht gesprochen. Es war alles gesagt. Nach einer Weile gingen sie weiter. Der schmale Grat, auf dem sie wanderten, verbreiterte sich nach und nach wieder. Der Pflanzenbewuchs wurde dichter, es waren zwar noch Reste eines Pfades zu erkennen, doch sie mussten sich immer wieder durch ausufernde Schlingpflanzen und wuchernde purpurblättrige Pfauenbüsche kämpfen. Ein süßlicher Blütenduft lag in der Luft.
Shanera befand sich in einem rauschhaften Hochgefühl. Trotz der auftretenden Hindernisse hatte sie das Gefühl, den Weg entlang zu schweben. Leichter Nebel verschleierte ihre Sicht.
Erst als sie sah, dass Zela schwankte und offenbar Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie wollte zu ihr gehen, um ihr zu helfen oder sie zu fragen, was los war, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr richtig, noch weniger ihre Stimme. Als sie ihre Freundin erreichte, konnte sie sich nur noch unbeholfen an ihren Arm klammern und den erschreckten Ausdruck in ihren Augen erwidern. Die Beine versagten ihren Dienst, und aneinander geklammert brachen sie zusammen, Zelas Kopf auf ihrer Brust.
Wie in Trance sah sie, wie Koras, ebenfalls schwankend, sich die Hand vor die Nase hielt und dann mühsam ein Tuch vors Gesicht band. Er wirkte wie ein Riese, als Schatten aufragend zwischen den bizarren Formen der sie umringenden Pflanzen und Bäume. Er kam auf sie zu, sagte etwas zu ihr, was sie aber nicht verstehen konnte. Dann hatte er Zela über die Schulter geladen und war mit ihr verschwunden.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging. Eine friedliche Stimmung hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie blickte in die Wolken. Nur eine kleine Ranke in ihrem Gesichtsfeld irritierte sie, die vorher nicht da gewesen war.
+
Ein Guss kalten Wassers in ihr Gesicht weckte sie unsanft. Verwirrt blickte sie auf und sah Koras’ Gesicht über sie gebeugt.
„Wie fühlst Du Dich?“
„… Schlapp. Und ziemlich nass.“ Mit noch etwas ungelenken Bewegungen wischte sie sich das Wasser aus dem Gesicht.
„Tut mir leid. Aber ich konnte Dich nicht wach bekommen und ich hatte Angst, dass es gefährlich sein könnte, Dich zu lange schlafen zu lassen.“
„Was ist passiert?“ Shanera setzte
Weitere Kostenlose Bücher