Shanghai Love Story
warm machen. Würdest du den Tisch decken, Liebes?«
Laurent schaute Anna an und hob die Augenbrauen.
»Aber gerne«, sagte Anna zähneknirschend und funkelte Laurent an.
Anna stellte die Schüsseln auf den Tisch, während Laurent zuschaute. Mr White kam mit den Nudeln aus der Küche. Er stellte sie auf den Tisch und legte klassische Musik auf.
»Setz dich, Laurent. Setz dich.«
Anna lieà sich ihrem Vater gegenüber nieder. Sie starrte in ihre Schüssel.
»Laurent hat mir erzählt, dass er eine chinesisch-französische Handelslizenz erwerben will, wenn er mit dem Studium fertig ist, Anna.« Mr White hob die Augenbrauen. Er war beeindruckt. »Er muss nur noch ein Jahr Chinesisch studieren, und dann geht es los.«
Anna nahm sich von den Nudeln. Laurent, der bemerkte, dass ihn niemand bedienen würde, tat es ihr nach. Mr White hatte das Essen augenscheinlich vergessen. »Mir gefällt ein Mann, der weiÃ, woâs langgeht!«, sagte er und zwinkerte Laurent zu.
Laurent lächelte ihn an.
»Wie auch immer, Anna, das hat mich auf etwas gebracht. Ich habe mit Laurent über deine Zukunft gesprochen und mir gedacht, dass es vielleicht gar nicht schlecht wäre, wenn du es genauso machst wie er. Mandarin ist heutzutage eine sehr nützliche Sprache im internationalen Handel. Also, ich habe folgenden Vorschlag â¦Â« Er verstummte, um seine nächsten Worte zu unterstreichen. Laurent schaute auf seine Nudeln. »Wie wäre es, wenn du hierbleibst und gemeinsam mit Laurent an der Universität studierst?«
Mr White lehnte sich zufrieden zurück. Laurent warf Anna einen verstohlenen Blick zu.
»Dad!«
»Um Geld müsstest du dir keine Sorgen machen. Du hast ja mich. Und du könntest auf dem Campus wohnen, mit all den anderen ausländischen Studenten. Das wäre doch toll, was?«
»Dad!«
»Wirklich, ich halte das für eine ausgezeichnete Idee. Und dann hättet ihr beiden auch Gelegenheit, euch besser kennenzulernen.« Wieder zwinkerte er Laurent zu. Laurent schaute weg.
Anna schob ihren Stuhl vom Tisch weg. »Können wir ein andermal darüber reden, Dad?«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass wir das jetzt diskutieren sollten!« Sie nickte in Laurents Richtung.
Als Anna das Zimmer verlieÃ, hörte sie, wie ihr Vater Laurent zuflüsterte: »Es ist fast unmöglich, aus diesem Mädchen eine Antwort herauszubekommen.«
Anna saà auf ihrem Bett und zitterte vor Zorn. Wieder einmal wurde ihr klar, dass in der Vergangenheit ihr Vater alle Entscheidungen in der Familie getroffen hatte. Obwohl er nicht mehr mit Anna und ihren Schwestern zusammenlebte, wandte sich ihre Mutter immer noch an ihn, wenn wichtige Entschlüsse zu fassen waren. Schlimmer noch: Anna wusste, dass es ihre eigene Schuld war. Dem Weg zu folgen, den ihr Vater für sie bereitet hatte, war immer die einfachste Alternative gewesen, eine, die sie bereitwillig gewählt hatte. Warum konnte sie sich nicht gegen ihn behaupten? Warum konnte sie ihm nicht sagen, was sie wollte? Wenn sie ihn vor den Kopf stieÃ, musste sie in Zukunft all diese Entscheidungen allein treffen. Hatte sie davor Angst?
Der nächste Tag war ein Samstag, und Mr White war schon früh morgens auf. Wie jeden Samstag lag ein halber Arbeitstag vor ihm, und er würde erst für ein spätes Mittagessen heimkehren. Anna war froh, diesen Vormittag für sich zu haben. Im Bett liegend, rollte sie sich zur Seite und holte ihr Tagebuch aus dem Nachttisch. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Wenn sie es schaffte, sie auf Papier zu bannen, konnte sie vielleicht ein wenig klarer sehen.
30. April 1989
Chenxi â ich kann den Kuss immer noch fühlen, aber wenn ich an dich denke, ist mir, als würde ich über einem Abgrund schweben. Dunkelheit umgibt mich, und alles, was ich sehe, ist dein blutiges Gesicht. Und diese Augen, in denen ich nicht lesen kann. Normalerweise gelingt mir das immer, aber nicht bei dir â¦
Anna schrieb den ganzen Vormittag. Alles, was ihr durch den Kopf ging, brachte sie zu Papier. Während sich die Worte vor ihren Augen formten, Seite für Seite, entleerte sie ihr Inneres. Beim Schreiben konnte sie so tun, als sei ihr Leben nichts als Fiktion. Ein einziger, schier endloser Roman, dessen Ende sich von selbst schreiben würde. Ein Ende, das sie nicht voraussehen konnte.
Erst als sie die Aiyi die Wohnungstür
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