Shannara I
daß er nicht tot war.
Die Ankertaue wurden gelöst, und er spürte, wie das Floß, von der Strömung getrieben, auf den Fluß hinausglitt. Augenblicke später befanden sie sich in der Fahrrinne, lautlos stromabwärts gleitend, der ummauerten Stadt Tyrsis entgegen, wohin die Bewohner von Kern Stunden zuvor geflohen waren. Vierzigtausend Menschen, zusammengedrängt auf Riesenflößen, in kleinen Booten, sogar in Zweimannkähnen, waren unentdeckt aus der belagerten Stadt entkommen, als die feindlichen Posten am Westufer des Mermidon sich hastig ins Hauptlager zurückbegeben hatten, wo ein Großangriff durch die vereinigten Armeen Callahorns im Gange zu sein schien. Das Klatschen des Regens, das Rauschen des Flusses und das Geschrei aus dem fernen Lager hatten die gedämpften Laute der Menschen übertönt, die, zusammengepfercht auf ihren schwankenden Untersätzen, entschlossen den Weg in die Freiheit einschlugen. Die Dunkelheit des bewölkten Himmels hatte sie verborgen, ihr Mut sie aufrechterhalten. Zumindest vorerst waren sie dem Dämonen-Lord entkommen.
Menion döste eine Weile und spürte nichts als ein leichtes Schwanken des Floßes, das der Strom rasch südwärts trug. Seltsame Träume durchzuckten ihn, dann drangen Stimmen zu ihm durch, zwangen ihn, schnell zu erwachen, und seine Augen wurden versengt von einem ungeheuren roten Schein, der die feuchte Luft ringsum erfüllte. Er kniff die Augen zusammen und stand auf, als der Nordhimmel sich mit rotem Leuchten verfärbte.
»Sie haben die Stadt angezündet, Menion!« sagte Shirls Stimme leise an seinem Ohr. »Sie verbrennen meine Heimat, den Ort, wo ich zu Hause war.«
Menion senkte den Kopf und griff nach Shirls Arm. Die Bewohner hatten flüchten können, aber die alte Stadt Kern erlebte das Ende ihrer Tage und versank mit grandioser Pracht in Asche.
Kapitel 25
Die Stunden verrannen lautlos in der Gruftschwärze der kleinen Zelle. Selbst nachdem die Augen der Gefangenen sich an die undurchdringliche Dunkelheit gewöhnt hatten, blieb eine Isolierung, die auf die Sinne drückte und ihre Fähigkeit zerstörte, den Ablauf der Zeit zu bestimmen. Jenseits der leeren Dunkelheit des Raumes und ihrer eigenen Atemzüge konnten die drei Gefangenen nichts hören als das gelegentliche Scharren eines kleinen Nagetieres und das stetige Tropfen eisig kalten Wassers auf Stein. Schließlich begannen ihre eigenen Ohren ihnen etwas vorzulügen, und sie hörten Geräusche, wo nur Stille war. Ihre Bewegungen selbst waren bedeutungslos, weil sie im leeren Raum stattzufinden schienen. Eine endlose Zeitspanne dehnte sich und verging, und noch immer erschien niemand.
Irgendwo im Licht und in der Luft über ihnen, inmitten der Menschen, entschied Palance Buckhannah über ihr Schicksal und damit indirekt über das Geschick des Südlandes. Die Zeit lief ab für Callahorn; mit jeder Stunde rückte der Dämonen-Lord näher. Aber hier, in der lautlosen Schwärze des kleinen Verlieses, in einer vom Pulsschlag der menschlichen Welt abgeschnittenen Umgebung, bedeutete die Zeit nichts, und der morgige Tag würde so sein wie der heutige. Irgendwann würde man sie entdecken, aber würden sie ins freundliche Licht der Sonne steigen oder von einer Dunkelheit in die andere treten? Würden sie nur der entsetzlichen Düsternis des Schädelkönigs begegnen, dessen Macht nicht nur nach Callahorn, sondern in die fernsten Winkel aller Provinzen des Südlandes reichte?
Balinor und die Elfen-Brüder hatten sich bald nach dem Verschwinden ihrer Wärter befreit. Die Stricke, mit denen sie gefesselt gewesen waren, hatte man nur locker gebunden, weil es keine Flucht aus den Verliesen gab, und sie hatten sich beeilt, die Knoten zu lösen. In der Dunkelheit kauernd, Stricke und Augenbinden beiseite werfend, besprachen sie, was mit ihnen geschehen werde. Der feuchte, faulige Gestank des uralten Kellers verursachte Übelkeit, und die Luft war kalt und zermürbend, trotz ihrer dicken Kleidung. Der Boden war aus Erde, die Mauern aus Stein und Eisen, der Raum nackt und leer.
Balinor kannte den Keller unter dem Palast, nicht aber den Raum, in den sie eingekerkert worden waren. Die Kellerräume wurden in erster Linie für Lagerzwecke benützt, und es gab eine Reihe von Kammern, in denen man Weinfässer gestapelt hatte, aber dieser Raum gehörte nicht dazu. Er begriff betroffen, daß man sie in das alte Verlies, das Jahrhunderte zuvor unter dem Keller gebaut worden war, eingeschlossen hatte. Wahrscheinlich waren
Weitere Kostenlose Bücher