Shannara III
ihr Lager aufzuschlagen, konnte Jair kaum mehr gehen. Er wurde wieder an einen Baum gebunden, bekam eine rasche Mahlzeit und ein paar Schluck Bier und schlief innerhalb von Minuten.
Die folgenden Tage vergingen ähnlich. Die Gnomen erwachten bei Sonnenaufgang, führten ihn am Seeufer entlang ostwärts, streiften das Hochland im Norden, um die Schwarzen Eichen zu erreichen, die sie jeder Sicht entzogen. Diesmal machten die Gnomen dreimal täglich Rast - einmal während des Vormittags, dann wieder zu Mittag und ein letztes Mal im Lauf des Nachmittags. Die restliche Zeit des Tages marschierten sie und Jair mit schmerzendem Körper und blasigen, wunden Füßen mit ihnen. Er war bis an die Grenzen des für ihn Erträglichen getrieben, wollte ihnen aber nicht die Befriedigung verschaffen, ihn schwach werden zu sehen, nicht einmal für einen Augenblick. Sein eiserner Wille verlieh ihm Kraft, und er hielt mit ihnen Schritt.
Die ganze Zeit über, da sie ihn durchs Hochland schleppten, dachte er über Fluchtmöglichkeiten nach. Nicht einmal kam es ihm in den Sinn, daß er nicht fliehen würde; die Frage war nur, wann. Er wußte sogar schon, wie er es anstellen würde. Dieser Teil war unproblematisch. Er würde sich einfach unsichtbar für sie machen. Auf etwas Derartiges kämen sie nicht - nicht solange sie annahmen, seine Zauberkunst wäre auf eingebildete Spinnen und Schlangen beschränkt. Sie begriffen nicht, daß er ebenso gut andere Dinge konnte. Früher oder später bekäme er eine Gelegenheit. Sie würden ihn just so lange losbinden, daß er die Magie noch einmal anwenden konnte. Er brauchte nicht länger als einen Augenblick. Dann wäre er einfach verschwunden. Diese Gewißheit brannte in ihm wie ein helles Licht.
Er bekam zusätzlichen Ansporn zu seinem Fluchtvorhaben. Spinkser hatte ihm erzählt, der Wandler, der mit der Gnomenpatrouille ins Tal gekommen war, war auf der Suche nach Allanon Richtung Osten gezogen. Aber woher sollte Allanon wissen, daß er von einem Mordgeist verfolgt wurde? Nur Jair konnte ihn warnen, und der Junge aus dem Tal wußte, daß er dazu eine Möglichkeit finden mußte.
Seine Fluchtpläne bestanden erst in Gedanken, als sie später an jenem Nachmittag in die Schwarzen Eichen vorstießen. Die hohen, dunklen Stämme erhoben sich wie eine Mauer um sie. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie von der Sonne abgeschnitten. Sie wanderten tief in den Wald hinein und folgten einem Pfad, der parallel zur Uferlinie des Sees und beständig in Richtung des dämmrigen Ostens verlief. Hier zwischen diesen Bäumen war es kühler, dunkel und still. Der Wald nahm sie auf und verschlang sie wie eine Höhle, die in die Erde hineinführte.
Bei Sonnenuntergang lag das Hochland weit hinter ihnen. Als sie auf einer kleinen Lichtung im Schütze der Eichen und einer langen Bergkette, die im Norden steil zum Wasser hinabfiel, lagerten, saß der Talbewohner immer noch gefesselt und geknebelt mit dem Rücken an dem bemoosten Stamm eines Baumes, schätzte ein dutzendmal seinen Umfang und schaute Spinkser zu, wie er Fleischeintopf aus einem Kessel schöpfte, der über einem kleinen Lagerfeuer brodelte. So erschöpft und zerrüttet Jair war, studierte er doch den Gnomen und wunderte sich über die Widersprüche, die er im Charakter des Fährtensuchers sah. Zwei Tage lang hatte er reichlich Gelegenheit gehabt, Spinkser zu beobachten, und er war jetzt genau so verwirrt über den Gnomen wie bei ihrem ersten Gespräch am Abend nach seiner Gefangennahme. Was für ein Bursche war er? Sicher, er war ein Gnom, doch gleichzeitig wirkte er auch wieder nicht so. Mit Sicherheit war er kein Ostland-Gnom. Er hatte nichts gemein mit den Gnomen, mit denen er reiste. Selbst sie schienen das zu spüren. Jair entnahm es ihrem Verhalten ihm gegenüber. Sie duldeten ihn, gingen ihm aber aus dem Weg. Das hatte Spinkser Jair gegenüber ja bestätigt. Er war auf seine Weise ebenso ein Außenseiter wie der Talbewohner. Doch es war mehr als das. Es war etwas am Wesen des Gnomen, das ihn von den anderen unterschied - eine Frage der Einstellung vielleicht oder der Intelligenz. Er war klüger als sie. Und das verdankte er vermutlich der Tatsache, daß er etwas getan hatte, was sie nicht gemacht hatten. Als geschickter Fährtensucher und Wanderer der Vier Länder war er ein Gnom, der mit der Tradition seines Volkes gebrochen und seine Heimat verlassen hatte. Er hatte Dinge gesehen, die ihnen unbekannt geblieben waren. Er verstand Dinge, die sie
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