Shannara VII
vor der Schlucht und starrten in stillem Nachdenken auf die Schrift. Sie war sehr alt und nicht zu entziffern. Es war Elfenschrift, aber der Dialekt war ihnen nicht bekannt, und die Arbeit war so sehr vom Wetter abgenagt, daß sie beinahe ganz abgetragen war.
Dann trat Vree Erreden einen Schritt vor, ließ sich von Tay und Jerle hochheben und strich mit seinen Fingern über die Schrift. Einen Augenblick verharrte er so, die Augen geschlossen, die Hände tastend, innehaltend, dann wieder tastend. Dann ließ er sich hinuntergleiten. Wie in Trance beugte er sich zu dem Felsen hinunter, auf dem sie standen, und scheinbar ohne auf das zu achten, was er tat, konzentrierte er seinen Blick auf etwas, das sie nicht sehen konnten. Mit einem Stein ritzte er Buchstaben in die weiche Oberfläche.
Tay beugte sich darüber und las.
DIES IST DIE KAU-MAGNA.
WIR LEBEN NOCH IMMER HIER.
BERÜHRE NICHTS. TRAGE NICHTS FORT.
UNSERE WURZELN SIND STARK UND TIEF.
NIMM DICH IN ACHT.
»Was bedeutet das?« flüsterte Jerle.
Tay schüttelte den Kopf. »Es bedeutet, daß das, was hinter den Eingang liegt, von Magie bewacht wird und jede Störung unangenehme Folgen haben wird.«
»Es heißt, sie sind noch am Leben«, bemerkte Vree Erreden. Er zischte beinahe vor Ungläubigkeit. »Aber das kann nicht sein! Seht euch die Schrift an! Sie muß aus der Zeit der Feen stammen!«
Sie starrten die Schriftzeichen an, die Spalte und dann einander. Hinter ihnen warteten die Elfenjäger mit Preia Starle. Niemand sagte ein Wort. Sie alle hatten das Gefühl, als zerflösse die Zeit, als vereinigten sich Vergangenheit und Gegenwart und wiesen über die Vergänglichkeit des Lebens und der Geschichte hinaus. Sie hatten das Gefühl, am Rand einer Klippe zu stehen und zu wissen, daß jeder falsche Schritt unweigerlich den Tod zur Folge hatte. Tays Wahrnehmung der fremden Magie war so stark, daß er beinahe den Eindruck hatte, sie würde seine Haut berühren. Alt, mächtig, mit eisernem Willen, aus einer bestimmten Absicht heraus und mit einem bestimmten Grund beschworen, erfüllte sie seine Sinne und drohte ihn zu überwältigen.
»Wir sind nicht bis hierher gekommen, um wieder umzukehren«, bemerkte Jerle Shannara mit ruhiger Stimme und schaute Tay an. »Das kommt gar nicht in Frage.«
Tay nickte. Er war genauso entschlossen. Er schaute Vree Erreden an, dann Preia Starle und die hinter ihr stehenden Elfenjäger und wandte sich schließlich wieder Jerle zu. Er warf seinem Freund ein etwas schiefes Lächeln zu. Dann holte er tief Luft und verschwand in dem dunklen Schlund der Spalte.
Kapitel 16
Der Spalt in dem Felsen öffnete sich sofort zu einem breiten Gang, der die Möglichkeit bot, zu zweit nebeneinander zu stehen. Stufen wanden sich nach unten in eine Dunkelheit von so gewaltigem Ausmaß, daß nicht einmal Tay Trefenwyds scharfer Blick sie durchdringen konnte. Er ging einige Meter weiter und tastete sich an der Wand entlang, bis er gegen eine Metallplatte stieß. Licht strömte bei der Berührung von ihrer glatten Oberfläche, blaßgelb und kühl. Er starrte die Platte überrascht an, denn einer solchen Magie war er noch niemals begegnet. Das Licht enthüllte jetzt eine andere Platte weiter vorn, wo es wieder dunkel wurde. Tay ging zu ihr, legte seine Hand darauf, und auch sie erstrahlte. Das ist unglaublich, dachte er staunend. Er hörte die Schritte der anderen hinter sich und überlegte einen Moment, was sie wohl denken mußten. Aber niemand sagte etwas, und er schaute sich nicht nach ihnen um. Statt dessen ging er weiter durch den dunklen Korridor, den er immer wieder erhellte, indem er eine Metallplatte nach der anderen berührte.
Der Abstieg dauerte lange. Tay konnte nicht abschätzen, wieviel Zeit dabei verging, denn seine gesamte Konzentration war darauf gerichtet, Druidenmagie auszusenden und so versteckte Fallen aufzustöbern. Die Metallplatten, durch die sie mit dem notwendigen Licht versorgt wurden, zeugten von einem unerwartet ausgeklügelten System. Über Feenmagie war nicht viel bekannt, denn die meisten Überlieferungen waren im Laufe der Zeit verloren gegangen. Dennoch hatte Tay immer als selbstverständlich angenommen, daß die Wurzeln ihrer Magie mehr in der Natur und weniger in der Technologie zu finden waren. Diese Metallplatten schienen ihn jedoch zu widerlegen, und das machte ihn unsicher. Du darfst nichts so akzeptieren, wie es scheint, ermahnte er sich. Seine Druidenmagie arbeitete eifrig, sie trieb im Luftstrom,
Weitere Kostenlose Bücher