Shannara VIII
bei Bewusstsein, doch ihr Verstand hatte sie längst noch nicht im Stich gelassen. Falls sie ihm lieferte, was er verlangte, und ihm verriet, wo er ihre Freunde fand, würde er sie keineswegs rasch umbringen, sondern ihr das antun, was er auch mit Aden Kett gemacht hatte. Er würde sich diesen Genuss nicht entgehen lassen, ihre Seele zu fressen, die Seele einer Seherin, einfach nur, um auszuprobieren, wie es war. Nur aus einem einzigen Grund hatte er das bisher nicht getan: Weil er weiterhin hoffte, sie würde ihn zu den Gesuchten führen. Nachdem er sie hatte schinden lassen, würde sie ihm nicht mehr helfen. Seinen Hunger nach ihr konnte er ein paar Tage aushalten. In dieser Hinsicht zeigte er Geduld.
Der Tag näherte sich seinem Ende. Die Seile, mit denen sie festgebunden war, schnitten ihr fast bis auf den Knochen ins Fleisch. Arme und Schultern waren mit Blut verschmiert. Sie spürte ihre Hände nicht mehr. Ihr entblößter Leib war verbrannt, die Haut war von Sonne und Wind aufgesprungen und schmerzte unaufhörlich.
All das Leid rief Visionen hervor, von denen sie manche verstehen konnte, andere nicht. Sie sah ihre Gefährten, die Lebenden und die Toten, doch vermochte sie nicht zwischen ihnen zu unterscheiden.
Sie trieben vor ihrem inneren Auge vorbei, verweilten gerade lange genug, um sie zu erkennen, und verschwanden dann. Manchmal sprachen sie, aber fast nie begriff sie die Worte. Sie spürte, wie sie der Verstand verließ, während das Leben sich aus ihrem Körper verabschiedete und auf den dunklen Abgrund des gnadenvollen Vergessens zutrieb.
Walker, rief sie in Gedanken und flehte ihn an, zu ihr zu kommen.
Die Nacht senkte sich über das Schiff, die Mwellrets legten sich bis auf die Wache und den Steuermann schlafen. Niemand kam zu ihr. Niemand sprach mit ihr. Sie hing wie schon den ganzen Tag am Mastbaum, geschunden und sterbend. Den Schmerz spürte sie nicht mehr. Er war zwar vorhanden, doch inzwischen so sehr zu einem Teil von ihr geworden, dass sie ihn nicht mehr als etwas Außergewöhnliches wahrnahm. Sie fuhr sich mit der Zunge über die gesprungenen Lippen, damit ihr Mund nicht verklebte, und sog die kühle lindernde Nachtluft tief in sich ein. Morgen würde wieder die Sonne auf sie niederbrennen, aber sie hoffte, bis dahin tot zu sein.
Außerdem hoffte sie, dass Ahren weit fort war. Der Morgawr und seine Luftschiffe hatten ihn den ganzen Tag ohne Erfolg gesucht, also war dem Elfenprinzen die Flucht vermutlich gelungen. Er würde sich fragen, wann sie sich zu ihm gesellte, ob sie schon bald käme. Doch hatte sie nie die Absicht gehegt, die Schwarze Moclips zu verlassen. Ihre Visionen hatten ihr das eigene Schicksal prophezeit, ihren Tod an Bord dieses Schiffes, und sie war nicht so töricht zu glauben, sie könne ihn verhindern. Genauso wie Walker vor langer Zeit sein Schicksal in ihren Visionen gesehen hatte, hatte sie nun ihr eigenes erblickt. Die Visionen suchten eine Seherin ungebeten heim und enthüllten eben, was sie wollten. Wie jene Menschen, denen Ryer Ord Star mit Ratschlägen zur Seite stand, konnte auch sie nur das akzeptieren, was ihr offenbart wurde, und es nicht verändern.
Das jedoch, was sie dem Elfenprinzen über seine Zukunft verraten hatte, entsprach ebenfalls der Wahrheit, und ihn erwartete ein verheißungsvolleres Schicksal als sie. Er würde in den Vier Ländern weiterleben, lange noch, nachdem sie gestorben und von dieser Reise nur eine blasse Erinnerung geblieben war.
Er würde sich fragen, was aus ihr geworden war. Vielleicht würde er es erraten, wenn die Zeit verstrich und sie nicht auftauchte. Wie sie die Elfensteine vor dem Morgawr und den Mwellrets verborgen hatte, würde er allerdings nie erfahren. Dieses Geheimnis würde sie mit niemandem teilen. Außer mit Walker. Als Ahren bei dem Überfall zusammengebrochen war, hatte sie ihm die Steine schnell abgenommen, indem sie vortäuschte, ihn auf Verletzungen zu untersuchen. Da man sie mit Gewissheit durchsuchen würde, hatte sie die Steine in eine Mauerspalte gesteckt, während sich die Mwellrets mit Ahren beschäftigten. Eine einfache List, aber eine, die funktionierte. Nachdem sie einmal durchsucht worden war, stand sie nicht mehr unter Verdacht. Später hatte sie die Steine an Bord der Schwarzen Moclips erneut versteckt, bis die Zeit gekommen war, Ahren fortzuschicken.
Sie musste sich, wenn sie sich nicht selbst belügen wollte, eingestehen, dass sie daran gedacht hatte, ihm die Steine
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