Shannara VIII
Heftigkeit noch zu, denn eines stand fest: Was es auch für ein Wesen war, es konnte nicht menschlicher Natur sein. Antrax musste etwas anderes darstellen.
Rasch erhob er sich, um ihr auf die Beine zu helfen, aber sie hielt ihn mit einer raschen Geste zurück. »Berühr mich nicht, Ahren. Das war noch nicht alles - es geht noch weiter, noch fürchterlicher. Ich konnte es nicht ertragen, mir alles auf einmal anzuschauen, aber ich muss es tun. Ja, unbedingt. Ich habe mich den Visionen geöffnet, die von den Erinnerungen des Kehrers hervorgerufen wurden. Wenn du mich jetzt berührst, wird dadurch die Verbindung unterbrochen.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, beugte sie sich erneut vor und legte ihre Hände auf den Kehrer. Augenblicklich erstarrte ihr Gesicht, und ein Schreckenslaut entfuhr ihr. Ihr Kopf sank herab, und sie hing an dem Kehrer, als würde sie ohne ihn zusammensinken. »Oh! Oh!«, rief sie leise, doch verzweifelt.
Schließlich ließ sie los und ging abermals in die Hocke. So verharrte sie eine Weile lang und atmete abgerissen und flach, während ihr Gesicht blutleer war und ihr Körper erschlaffte. Ahren wäre gern zu ihr gegangen, blieb jedoch, wo er war, und gehorchte ihren Anweisungen. Im Tunnel herrschte Grabesstille, die wie ein stimmloses Echo in den Gängen widerzuhallen schien. Bestürzt wartete der Elfenprinz. Abermals fühlte er sich jung und dumm und verletzlich, als hätten ihn die Visionen der Seherin entblößt, als wäre sein Innerstes offen gelegt worden, ohne dass sie ihn berührte.
Dann kroch Ryer Ord Star rückwärts wie ein Krebs von dem Kehrer fort, brachte jedoch immer noch nicht den Kopf in die Höhe. »Ahren?«, flüsterte sie mit gebrochener Stimme.
Er streckte die Hände nach ihr aus und nahm sie in die Arme. Sie sank gegen ihn, und er hielt sie fest und stützte sie. Trotz ihrer Robe zitterte sie vor Kälte. Er strich ihr über das Gesicht und spürte die Tränen. »Alles ist gut«, tröstete er sie, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
Sofort schüttelte sie den Kopf. »Ahren«, sagte sie so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen konnte. Jetzt hob sie den Kopf, bis ihre Lippen sich an seinem Ohr befanden. »Du hattest Recht«, flüsterte sie. »Man hat uns überlistet. Das ist eine Falle.«
Entsetzt verharrte er. Er wollte etwas antworten, hielt seine Zunge jedoch im Zaum. Schließlich hatte er die Geistesgegenwart, sich an den Kehrer zu erinnern, der hören und übersetzen konnte, was sie sprachen.
»Antrax hat vor, deinen Onkel durch dich zu ersetzen«, murmelte sie und hielt ihn fest. »Man hat dich am Leben gelassen und hierher gebracht, damit du seinen Platz einnimmst.« Ihre Worte schnitten ihm wie winzige Glassplitter ins Herz. »Der Kehrer ist lediglich ein Werkzeug. Er wurde geschickt, um dich in den gleichen Raum zu locken, in dem Kael Elessedil all die Jahre gefangen gehalten wurde. Mich hat er benutzt, um dich zu überzeugen. Und ich…«
Sie brachte den Satz nicht zu Ende, und er drängte sich noch dichter an sie und hing an ihr, als wolle er ihr etwas bieten, an dem sie sich wiederum festklammern konnte. Bist du sicher?, hätte er fast gefragt. Aber die Frage war töricht. Mehrfach hatte sie ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt, und ohne Zweifel hatte sie auch diesmal Recht. Insbesondere, da er sich selbst schon von Anfang an unbehaglich gefühlt hatte. Sein Blick schweifte im Gang hin und her. Noch war er leer und verlassen. Welches Schicksal sie auch immer erwartete, bislang hatte es seinen Pfad noch nicht gekreuzt, obwohl es das eindeutig tun würde, wenn sie nicht rasch handelten.
Aber wie sollten sie handeln? Sie befanden sich tief unter der Erde, hatten sich hoffnungslos verirrt, ihr Gefährte und angeblicher Führer stand in den Diensten ihres Feindes. Antrax hatte sie unterwegs die ganze Zeit beobachtet und gelenkt. Was immer sie taten, wo immer sie hingingen, er konnte es sehen. Antrax würde sie nicht einfach aus der Falle entkommen lassen, die er ihnen zugedacht hatte. Seinen Plan, Kael Elessedil zu ersetzen, würde er sich nicht so rasch durchkreuzen lassen. Ahrens Herz klopfte heftig.
Die Worte der Seherin schlugen einer Woge gleich über ihm zusammen, und er schloss die Augen, weil er den Schmerz, den sie auslösten, nicht ertragen konnte. Antrax hatte ihn am Leben gelassen, hatte sie gesagt. Seine Flucht war arrangiert gewesen, während die anderen kämpften und starben. Keinesfalls durch Zufall oder Glück war ihm nichts
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