Shantaram
gönnen würde.
Sie weckten mich im Morgengrauen, indem sie einen Eimer Wasser über mich kippten. Tausend gellende Wunden erwachten mit mir. Mahesh durfte mir mit einem feuchten Lappen die Augen waschen. Als ich sie wieder öffnen konnte und etwas sah, nahmen sie mir die Handschellen ab, zogen mich an meinen steifen Armen hoch und führten mich aus der Zelle. Wir marschierten durch leere Höfe und über makellos gefegte Wege, die von streng geometrisch angelegten Blumenbeeten gesäumt waren. Vor einem der leitenden Gefängnisbeamten blieben wir schließlich stehen. Er war ein Mann in den Fünfzigern mit gepfegtem grauem Haar, feinsäuberlich gestutztem Schnurrbart und feinen, beinahe femininen Gesichtszügen. In einem Pyjama und einem Morgenmantel aus Seidenbrokat saß er auf einem kunstvoll geschnitzten hochlehnigen Stuhl, der an einen Bischofsstuhl erinnerte, mitten auf dem leeren Hof. Neben und hinter ihm standen Wärter.
»Dies ist eigentlich nicht meine bevorzugte Art und Weise, den Sonntag zu beginnen, guter Mann«, sagte er und verdeckte mit einer beringten Hand sein Gähnen. »Was zum Teufel soll das Ganze?«
Er sprach das präzise, kultivierte Englisch, das an guten indischen Schulen gelehrt wird. Aus diesen beiden Sätzen und seiner Aussprache schloss ich, dass er eine postkoloniale Schulbildung genossen hatte, die sich mit meiner vergleichen ließ. Meine Mutter hatte jeden einzelnen Tag ihres Lebens bis zur Erschöpfung geschuftet, um mich auf eine gute Schule zu schicken. Unter anderen Umständen hätte ich mit dem Mann vielleicht über Shakespeare oder Schiller oder Thomas Bulfinchs Mythology geplaudert. All das wusste ich nach diesen beiden ersten Sätzen über ihn. Doch was wusste er über mich?
»Nicht sehr gesprächig, hm? Woran liegt das wohl? Haben meine Männer Sie geschlagen? Haben die Aufseher Ihnen etwas getan?«
Ich starrte ihn schweigend an. Für einen Gefangenen der alten australischen Schule gilt, dass man grundsätzlich niemanden verpfeift oder denunziert. Nicht mal die Wachteln. Nicht mal Gefangenenaufseher. Man singt nie, egal um wen oder was es geht.
»Was ist also? Sagen Sie schon, haben die Aufseher Sie geschlagen?«
Das Schweigen, das auf seine Frage folgte, wurde plötzlich vom morgendlichen Gesang der Hirtenstare durchbrochen. Die Sonne war mittlerweile über den Horizont gestiegen, und goldenes Licht flutete durch den Dunst, löste ihn allmählich auf. Ich spürte die morgendliche Brise auf meinen tausend Wunden, die sich bei jeder Bewegung dehnten, worauf das getrocknete Blut abplatzte. Mit fest geschlossenem Mund atmete ich die Morgenluft dieser Stadt ein, die ich von ganzem Herzen liebte.
»Schlagt ihr ihn?«, fragte er einen der Aufseher auf Marathi.
»Aber sicher, Sir!«, antwortete der Mann sichtlich überrascht. »Das haben Sie uns doch befohlen!«
»Ich habe euch nicht befohlen, ihn umzubringen, du Idiot! Schaut ihn euch doch an! Er sieht aus, als hätte er keinen Fetzen Haut mehr am Leib!«
Der Beamte inspizierte einen Moment lang seine goldene Armbanduhr, dann stieß er einen gut vernehmlichen frustrierten Seufzer aus.
»Wie dem auch sei. Ich verhänge folgende Strafe: Ab jetzt werden Sie Fußeisen tragen. Sie müssen lernen, die Aufseher nicht mehr zu schlagen. Diese Lektion müssen Sie einfach lernen. Außerdem werden Sie bis auf weiteres auf halbe Ration gesetzt. Und jetzt schafft ihn fort.«
Ich blieb stumm, und sie führten mich in die Schlafzelle zurück. Ich wusste, wie der Hase lief. Ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass es klug ist, den Mund zu halten, wenn jemand von der Gefängnisleitung seine Macht missbraucht: Was immer man tut, verärgert solche Leute nur noch mehr; was immer man sagt, verschlimmert die Lage. Dem Despotismus ist nichts so verhasst wie ein Opfer, das auf seine Rechte pocht.
Der Mann, der mir die Fußeisen anpasste, war ein fröhlicher Gefangener mittleren Alters, der gerade das neunte Jahr einer siebzehnjährigen Haftstrafe wegen Doppelmordes ableistete. Er hatte seine Frau und seinen besten Freund umgebracht, als er die beiden schlafend zusammen vorfand, und sich dann auf der örtlichen Polizeiwache selbst gestellt.
»War friedlich«, erklärte er mir, während er den Stahlring mit einer Zange laut knirschend um mein Fußgelenk fixierte. »Sind die beide in dem Schlaf gestorben. Na ja, er jedenfalls. War sie wach, als sie ist getroffen geworden von die Axt, ein bisschen wach, aber nicht sehr lang.«
Nachdem er mir die
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