Shantaram
Fußeisen angepasst hatte, hob er die Kette hoch, mit der meine Füße gefesselt werden sollten. In der Mitte befand sich ein etwas größeres, ringförmiges Kettenglied. Er gab mir einen langen Streifen groben Stoff und zeigte mir, wie ich ihn durch den Ring führen und dann um meine Taille binden sollte. Auf diese Weise hing der Ring etwas unterhalb der Knie, und die Kette schleifte nicht am Boden.
»Noch zwei Jahre, haben die mir gesagt, dann ich werde Aufseher«, teilte er mir mit einem Augenzwinkern und breiten Lächeln mit, während er sein Werkzeug zusammenpackte. »Mach kein Sorgen dir. Wenn das ist so weit, in zwei Jahre, ich pass auf dich auf. Bist du mein sehr guter englischer Freund, ja? Kein Problem.«
Durch die Kette konnte ich mich nur noch mit kleinen Schritten bewegen. Um etwas schneller voranzukommen, musste ich mir einen schlurfenden, hüftschwingenden Gang aneignen. In meinem Schlafsaal gab es zwei weitere Männer mit Fußeisen. Ich studierte deren Bewegungen und erlernte die Technik nach und nach. Schon nach wenigen Tagen vollführte ich diesen watschelnden, schlingernden Tanz genauso unbefangen wie sie. Und mehr noch: Ich erkannte, dass der Schlurftanz meiner Vorbilder nicht nur den Regeln der Notwendigkeit gehorchte; sie versuchten vielmehr, ihren Bewegungen eine gewisse Anmut zu verleihen, dieses Rutschen und Torkeln schöner zu machen, um die Schmach der Fußeisen abzumildern. Und mir wurde bewusst, dass Menschen sogar in einer solchen Lage die Kunst nicht vergessen.
Dennoch war es eine schreckliche Demütigung. Die schlimmsten Dinge, die andere uns antun, beschämen uns selbst am allermeisten. Die schlimmsten Dinge, die andere tun, treffen jenen Teil von uns, der die Welt lieben will. Und ein kleiner Teil der Scham, die wir empfinden, wenn wir gepeinigt werden, ist die Scham, ein Mensch zu sein.
Ich lernte, mit den Fußeisen zu gehen, doch die halbierten Rationen forderten ihren Tribut, und ich nahm immer stärker ab: nach meiner Schätzung ganze fünfzehn Kilo innerhalb eines Monats. Ich lebte von einem handtellergroßen Stück Chapatti und einer Untertasse voll wässriger Suppe pro Tag. Mein Körper mergelte aus und schien stündlich schwächer zu werden. Immer wieder versuchten mir Männer mit geschmuggeltem Essen zu helfen. Sie wurden dafür geschlagen, aber sie versuchten es trotzdem. Nach einer Weile wies ich ihre Hilfsangebote zurück, denn die Schuldgefühle, die mich erfassten, wenn sie meinetwegen gezüchtigt wurden, setzten mir genauso zu wie die Unterernährung.
Die zahllosen kleinen und großen Verletzungen, die ich im Laufe der beinahe eintägigen Folter erlitten hatte, verursachten mir quälende Schmerzen. Die meisten Wunden waren entzündet und einige von einem gelben Gift angeschwollen. Ich versuchte, sie mit dem wurmigen Wasser zu reinigen, doch sie wurden nie richtig sauber. Und die Kadmal-Bisse vermehrten sich von Nacht zu Nacht. Mittlerweile war mein ganzer Körper von Hunderten dieser Bisse bedeckt, die sich auch entzündeten und eiterten. Dazu hatte ich Unmengen von Läusen. Ich zerquetschte das widerliche, wimmelnde Ungeziefer nach wie vor routinemäßig jeden Tag, doch die wunden Stellen zogen es an. Bereits beim Aufwachen spürte ich, wie die Läuse saugten und stachen und sich in den warmen, feuchten Wunden vermehrten.
Verprügelt allerdings wurde ich nach meinem Treffen mit dem Gefängnisbeamten an jenem Sonntagvormittag nicht mehr. Big Rahul zog mir gelegentlich noch eins über, und auch einige der Aufseher verpassten mir dann und wann einen Hieb, doch es waren eher beiläufige Routinehiebe.
Und dann eines Tages, als ich auf der Seite lag, um meine Kräfte zu schonen, und zusah, wie die Vögel im Hof nach Krumen pickten, wurde ich von einem mächtigen Kerl angefallen, der auf mich sprang und mich mit beiden Händen würgte.
»Mukul! Mein kleiner Bruder Mukul!«, knurrte er mich auf Hindi an. »Mukul! Der kleine Bruder, den hast du ins Gesicht gebissen! Mein Bruder!«
Er war groß und untersetzt und hätte der Zwillingsbruder des Mannes sein können. Ich erkannte das Gesicht, und als ich seine Worte hörte, erinnerte ich mich sofort an den Mann, der im Gefängnis von Colaba versucht hatte, mir den Aluminiumteller wegzureißen. Doch ich hatte zu stark abgenommen. Hunger und Fieber hatten mich zu sehr geschwächt. Sein Gewicht erdrückte mich, und seine Hände pressten mir die Kehle zu. Er war im Begriff, mich umzubringen.
Lektion Nummer vier im
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