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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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haben alle alten Männer und Frauen und Kinder getötet. Sie sind alle gestorben. Meine ganze Familie. Alle, die ich dort zurückgelassen hatte. Ich weiß nicht mal, wo ihre Leichen sind. Sie haben sie versteckt, denn sie wussten, dass das ein Kriegsverbrechen war. Und du meinst … du meinst allen Ernstes, dass ich es dabei bewenden lassen sollte, Lin?«
    Wir saßen auf der Rückbank und schauten aufs Meer. Von unserem Parkplatz auf dem erhöhten Teil des Marine Drive blickten wir auf einen Teil des Chowpatty Beach. Unter uns versuchten die ersten Scharen von Familien, Paaren und jungen Männern, die ihren abendlichen Streifzug um die Häuser begannen, ihr Glück beim Dartspiel oder Ballonschießen. Und die Eis- und Brauseverkäufer in ihren farbenprächtigen Lauben stießen Lockrufe aus wie werbende Paradiesvögel.
    Der Hass, der Khaleds Herz einschnürte, war das Einzige, worüber wir uns je stritten. Ich war mit jüdischen Freunden aufgewachsen. In Melbourne, der Stadt meiner Kindheit und Jugend, gab es eine große jüdische Gemeinde, darunter viele Holocaust-Überlebende und deren Kinder. Meine Mutter war eine wichtige Figur in den Fabier-Kreisen Melbournes gewesen und hatte Umgang mit linksorientierten Intellektuellen aus der griechischen, chinesischen, deutschen und jüdischen Gemeinde gepflegt. Viele meiner Freunde hatten eine jüdische Schule besucht, das Mt. Scorpus College. Mit diesen Kindern war ich aufgewachsen, ich hatte die gleichen Bücher gelesen wie sie, war auf die gleichen Filme und die gleiche Musik abgefahren, hatte mit ihnen zusammen für dieselben Sachen demonstriert. Zu den wenigen Menschen, die zu mir hielten, als mein Leben so schmerzhaft und schamvoll in sich zusammenfiel, gehörten eben diese Freunde. Und ein jüdischer Freund hatte mir schließlich auch dabei geholfen, nach meinem Gefängnisausbruch aus Australien zu fliehen. Ich achtete, bewunderte und liebte all diese Freunde. Khaled hingegen hasste jeden Israeli, jeden Juden auf dieser Welt.
    »Das ist doch so, als würde ich alle Inder hassen, bloß, weil mich ein paar Inder im Gefängnis gefoltert haben«, sagte ich leise.
    »Das ist etwas anderes.«
    »Ich habe ja nicht behauptet, dass es das Gleiche ist. Ich versuche nur … Schau, als ich dort, im Arthur-Road-Gefängnis, an die Wand gekettet war und die mich stundenlang traktiert haben, hab ich nach einer Weile nur noch Blut geschmeckt und gerochen. Und nur noch die Lathis gehört, die auf mich eindroschen.«
    »Ich weiß, Lin –«
    »Nein, lass mich ausreden. Es gab da einen Moment, irgendwann mittendrin, der war … total seltsam. Auf einmal fühlte es sich an, als würde ich schweben und von außen auf meinen Körper runterschauen und auf die Aufseher und alles, was da passierte. Und ich hatte so ein seltsames Gefühl, ein … eine merkwürdige Art von Überblick über alles … Ich begriff plötzlich genau, was da ablief. Ich wusste, wer sie waren und was sie waren und warum sie das taten. Ich sah das alles ganz deutlich, und plötzlich wusste ich auch, dass ich zwei Möglichkeiten hatte – ich konnte sie hassen, oder ich konnte ihnen verzeihen. Und … ich weiß nicht, warum oder wie ich das hinkriegen wollte, aber in diesem Moment war mir vollkommen klar, dass ich ihnen verzeihen musste. Um überleben zu können, musste ich ihnen verzeihen. Ich weiß, das klingt verrückt –«
    »Es klingt nicht verrückt«, sagte er knapp, fast bedauernd.
    »Also, ich finde es immer noch verrückt. Ich habe es immer noch nicht richtig … verstanden. Aber genau so war es. Und ich habe ihnen tatsächlich verziehen. Wirklich. Und irgendwie bin ich mir sicher, dass ich genau deshalb durchgekommen bin. Das soll nicht heißen, dass ich nicht mehr wütend wäre – verflucht, wenn ich freigekommen wäre und eine Schusswaffe in die Finger gekriegt hätte, hätte ich die alle abgeknallt. Oder vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Aber unterm Strich ist nur wichtig, dass ich ihnen tatsächlich verziehen habe, und zwar noch während das alles passierte. Und wenn es nicht so gewesen wäre, wenn ich sie einfach nur gehasst hätte, dann hätte ich nicht durchhalten können, bis Khader mich herausgeholt hat, da bin ich mir ganz sicher. Ich wäre elendiglich zugrunde gegangen. Der Hass hätte mich umgebracht.«
    »Es ist trotzdem etwas anderes, Lin. Ich verstehe, was du mir sagen willst, aber was die Israelis mir angetan haben, war schlimmer. Außerdem: Wenn ich in einem indischen Gefängnis

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