Shantaram
wahrscheinlich ist das bei dir schon so lange her, dass du es vergessen hast.«
Ein Taxi hielt neben uns. Der Fahrgast auf dem Rücksitz blieb einen Augenblick im Schatten verborgen, der über dem Wagen lag, und beugte sich dann langsam zum Fenster vor. Es war Ulla.
»Lin«, keuchte sie. »Ich brauche deine Hilfe.«
Sie trug eine schwarz eingefasste Sonnenbrille und hatte ein Tuch um ihr aschblondes Haar gebunden. Ihr Gesicht war bleich, schmal und angespannt.
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor, Ulla«, sagte ich, ohne näher an das Taxi heranzutreten.
»Bitte. Ich meine es ernst. Bitte steig ein, ich muss dir etwas sagen … etwas, was du ganz bestimmt wissen willst.«
Ich rührte mich nicht.
»Bitte, Lin. Ich weiß, wo Karla ist. Wenn du mir hilfst, sage ich es dir.«
Ich drehte mich um und schüttelte den beiden Georges die Hand. Skorpion-George ließ ich dabei einen Zwanzig-Dollar-Schein in die Hand gleiten. Als ich die Stimmen der Georges erkannte, hatte ich ihn schon hervorgeholt, um ihn den beiden zum Abschied zuzustecken. Ich wusste, dass es in ihrer Welt genug Geld war, um sie eine Nacht lang zu reichen Männern zu machen – für den Fall, dass aus dem hübschen Sümmchen doch nichts wurde.
Ich öffnete die Taxitür und stieg ein. Der Fahrer lenkte den Wagen in den Verkehr und betrachtete mich wiederholt im Rückspiegel.
»Ich weiß nicht, warum du wütend auf mich bist«, jammerte Ulla, die jetzt ihre Sonnenbrille absetzte und mir unsichere, kurze Seitenblicke zuwarf. »Bitte sei doch nicht wütend, Lin. Bitte nicht.«
Ich war nicht wütend. Zum allerersten Mal seit langer, viel zu langer Zeit war ich nicht wütend. Skorpion-George hat recht, dachte ich: Die Suche nach einem Sinn im Leben macht uns zu Menschen. Es hatte nur der Erwähnung dieses einen Namens bedurft, und schon versank ich wieder in einem Meer der Gefühle. Ich war auf der Suche nach einer Frau, auf der Suche nach Karla. Deshalb ließ ich mich auf das Leben ein. Deshalb nahm ich Risiken auf mich. Ich hatte einen Grund. Ich hatte ein Ziel.
Und in diesem aufgewühlten Augenblick verstand ich plötzlich, was den ganzen Tag über Bedrückung und Zorn in mir verursacht hatte. Ich spürte ganz deutlich, dass dieser flüchtige kindliche Traum, Khader könne mein wahrer Vater sein, mich in diese rastlose Verzweiflung gerissen hatte, zu der die Liebe zwischen Vätern und Söhnen nur allzu oft gerät. Und als ich das sehen und fühlen konnte, fand ich die Kraft, die Dunkelheit aus meinem Herzen zu vertreiben. Ich schaute Ulla an. Ich starrte ins blaue Labyrinth ihrer Augen und fragte mich ohne Zorn und Schmerz, ob sie an dem Verrat beteiligt gewesen war, der mich ins Gefängnis gebracht hatte.
Sie legte mir die Hand aufs Knie. Ihr Griff war fest, doch ihre Hand zitterte. Die Sekunden dehnten sich. Wir saßen beide in der Falle, steckten fest, jeder auf seine eigene Art. Und wir waren im Begriff, das Spinnwebnetz unserer Verbindung aufs Neue zu erschüttern.
»Entspann dich. Ich werde dir helfen, wenn ich kann«, sagte ich ruhig und entschieden. »Und jetzt erzähl mir von Karla.«
V IERUNDZWANZIGSTES K APITEL
A m mitternächtlichen Horizont erhob sich das galaktische Sternenrad der Milchstraße feucht und zitternd aus den Wellen, während das silbriggelbe Licht des Dreiviertelmondes aufs Meer sank und die Wellenkämme zum Glitzern brachte. Es war eine warme, stille, vollkommen klare Nacht. Das Deck der Fähre nach Goa war voll besetzt, doch ich hatte einen Platz für mich allein ergattern können, abseits der großen Gruppe junger Touristen. Die meisten von ihnen waren zugedröhnt, liefen auf Gras, Haschisch oder LSD. Diskobeats wummerten aus einem Ghetto-blaster. Die jungen Leute hockten zwischen ihren Rucksäcken und wippten im Takt der Musik, klatschten mit, riefen einander dann und wann etwas zu und lachten viel. Sie waren glücklich, auf ihrem Weg nach Goa. Diejenigen, die zum ersten Mal in Indien waren, näherten sich einem Traum. Und die alten Hasen kehrten zu dem einen Ort auf der Welt zurück, wo sie sich wirklich frei fühlten.
Ich war unterwegs zu Karla. Ich blickte in den Sternenhimmel, während ich den Jugendlichen zuhörte. Ich konnte ihre hoffnungsvolle, unschuldige Begeisterung verstehen, und ein klein wenig spürte ich sie sogar selbst. Doch mein Gesicht blieb hart. Mein Blick war hart. Und diese Härte trennte meine Gefühle so säuberlich und unüberwindbar von den ihren wie der räumliche Abstand zwischen
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