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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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laubartige Rascheln ihrer Flügel hören konnten.
    »Als Kind habe ich die Geschichte von Ned Kelly geliebt. Und ich war nicht der Einzige. Maler, Schriftsteller, Musiker und Schauspieler haben sie bearbeitet, jeder auf seine eigene Weise. Ned Kelly ist in unserem Innern, in der australischen Psyche, verankert. Er ist der Mann, der für uns am ehesten Che Guevara oder Emilio Zapata gleichkommt. Als ich durch das Heroin nicht mehr klar denken konnte, haben sich in meiner Fantasie sein Leben und meines immer mehr vermischt. Aber meine Version war ziemlich danebengegangen. Ich sah ihn als Dieb, der zum Revolutionär wurde. Und ich war ein Revolutionär, der zum Dieb geworden war. Bei jedem meiner Überfälle – und das waren eine ganze Menge – war ich mir sicher, dass die Bullen schon auf mich warten und mich garantiert umbringen würden. Irgendwie habe ich sogar gehofft, dass es so kommen würde. Ich habe es in Gedanken immer wieder durchgespielt, habe es regelrecht vor mir gesehen: wie sie mir zurufen, dass ich aufhören soll, wie ich nach der Pistole greife und sie mich erschießen. Ich habe gehofft, dass mich die Bullen auf der Straße erschießen. Ich wollte unbedingt so sterben …«
    Sie legte mir einen Arm um die Schultern, fasste mich mit der anderen Hand am Kinn und drehte meinen Kopf so, dass ich in ihr lächelndes Gesicht blickte.
    »Wie sind die australischen Frauen denn so?«, fragte sie und strich mir durch die kurzen blonden Haare.
    Ich lachte, und sie boxte mich in die Rippen.
    »Ich meine es ernst! Erzähl mir von ihnen.«
    »Na ja, sie sind schön«, sagte ich, während ich in ihr schönes Gesicht sah. »Es gibt viele schöne Frauen in Australien. Sie reden gern. Und sie feiern gern – sie sind ziemlich wild. Und sehr direkt. Sie können es nicht leiden, wenn man große Töne spuckt. Niemand kann einen so gut zurechtstutzen wie eine Australierin.«
    »Zurechtstutzen?«
    »Na ja, weißt du, sich über uns Kerle lustig machen, wenn wir zu aufgeblasen sind. Die holen uns wieder auf den Teppich zurück, wenn wir zu eingebildet sind. Darin sind sie wirklich gut. Und wenn sie sticheln, um ein bisschen Dampf abzulassen, kann man davon ausgehen, dass man es verdient hat.«
    Karla legte sich in den Sand und verschränkte die Hände hinterm Kopf.
    »Ich glaube, Australier sind ziemlich verrückt«, sagte sie. »Und ich würde echt gern mal nach Australien fahren.«
    Und so hätte es für immer bleiben sollen – so leicht, so gut, so glücklich wie diese Tage und Nächte der Liebe in Goa. Aus den Sternen, der See und dem Sand hätten wir uns ein Leben erschaffen sollen. Und ich hätte auf Karla hören sollen – sie erzählte mir nicht viel, doch sie gab mir Fingerzeige, und heute weiß ich, dass sie mir mit ihren Worten und ihrer Miene Hinweise gab, die so klar und deutlich waren wie die Sternbilder am Himmel. Doch ich hörte nicht richtig zu. Es gehört wohl zum Verliebtsein dazu, dass wir oft nicht darauf achten, was der geliebte Mensch wirklich sagt, weil wir so von ihm berauscht sind. Ich liebte Karlas Augen, aber ich las nicht in ihnen. Ich liebte ihre Stimme, doch die quälende Angst, die darin lag, hörte ich nicht heraus.
    Und als die letzte Nacht gekommen und gegangen war und ich im Morgengrauen aufstand, um mich für die Rückreise nach Bombay fertig zu machen, lehnte sie in der Tür und blickte auf den schimmernden Ozean hinaus.
    »Geh nicht zurück«, sagte sie, als ich ihr die Hände auf die Schultern legte und ihren Nacken küsste.
    »Wie bitte?«, fragte ich lachend.
    »Geh nicht nach Bombay zurück.«
    »Und warum?«
    »Weil ich das nicht will.«
    »Was soll das heißen?«
    »Genau was ich gesagt habe – ich will nicht, dass du fährst.«
    Ich lachte erneut, weil ich es für einen Witz hielt.
    »Okay«, sagte ich und wartete auf die Pointe. »Und warum willst du nicht, dass ich fahre?«
    »Brauche ich dafür einen Grund?«
    »Na ja – eigentlich schon.«
    »Zufälligerweise habe ich sogar meine Gründe. Aber ich sage sie dir nicht.«
    »Nicht?«
    »Nein. Und ich finde auch, dass das nicht nötig sein sollte. Wenn ich dir sage, dass ich meine Gründe habe, müsste das eigentlich genügen – wenn du mich wirklich liebst, wie du immer sagst.«
    Ihre Tonfall war so vehement und ihre Aussage so brüsk, dass ich zu überrascht war, um mich zu ärgern.
    »Okay, okay«, lenkte ich ein. »Versuchen wir es nochmal anders: Schau, ich muss zurück nach Bombay. Komm doch einfach mit, und dann lass

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