Shantaram
rundes Kinn, und obwohl er sich eindeutig vor nicht allzu langer Zeit rasiert hatte, zeigte sich um den gepflegten Bart herum bereits wieder ein blauschwarzer Schatten. Es war ein ebenmäßiges, von klaren Linien bestimmtes Gesicht, das männliche Kraft ausstrahlte.
»Das ist Ahmed Zadeh«, stellte Khaled uns vor, als das Taxi anfuhr. »Ahmed, das ist Lin.«
Wir gaben uns die Hand und maßen uns mit offenen, freundlichen Blicken. Ahmeds Gesicht hätte wohl streng gewirkt, doch er hatte die Eigenart, immer leicht die Augen zu verengen, wodurch auf seinen Wangen kleine Lachfältchen entstanden. Sobald Ahmed Zadeh nicht ganz entspannt war und sich konzentrierte, bekam er diesen Gesichtsausdruck und sah aus, als halte er in einer Menschenmenge nach einem Freund Ausschau. Ich fand diese eigenartige Mimik entwaffnend und auf Anhieb liebenswert.
»Ich habe schon viel von dir gehört«, sagte er, ließ meine Hand los und legte den Arm auf die Lehne des Fahrersitzes. Er sprach ein verhaltenes, aber klares Englisch mit dem melodiösen Akzent jener Mischung aus Arabisch und Französisch, die in Nordafrika gesprochen wird.
»Ich hoffe nicht nur Gutes«, antwortete ich grinsend.
»Wäre es dir lieber, wenn die Leute schlecht über dich reden?«
»Ich weiß nicht. Mein Freund Didier meint, es sei schrecklich unfair, Leute hinter ihrem Rücken zu loben, weil man sich nicht verteidigen kann, wenn nur Gutes über einen gesprochen wird.«
»D’accord!« Ahmed lachte. »Das stimmt!«
»Mist, da fällt mir was ein«, warf Khaled ein, kramte in seinen Taschen und förderte einen zusammengefalteten Briefumschlag zutage. »Fast hätte ich es vergessen. Ich habe am Abend vor unserer Abreise Didier getroffen. Er hat dich gesucht, aber weil ich ihm nicht sagen konnte, wo du bist, hat er mich gebeten, dir diesen Brief zu geben.«
Ich nahm den Brief entgegen und steckte ihn in meine Hemdtasche, um ihn später in Ruhe zu lesen.
»Danke«, murmelte ich. »Und was ist jetzt Sache? Wo fahren wir hin?«
»Zu einer Moschee«, antwortete Khaled mit diesem kleinen wehmütigen Lächeln. »Als Erstes holen wir einen Freund ab, dann treffen wir uns mit Khader und ein paar von den anderen, die mit uns kommen werden.«
»Wie viele sind das?«
»Ich denke, wenn wir alle versammelt sind, werden wir so an die dreißig Mann sein. Die Meisten sind schon in Quetta oder Chaman an der Grenze. Morgen brechen wir auf – du, ich, Khaderbhai, Nasir, Ahmed und noch ein Freund von mir, Mahmud, den du, glaube ich, noch nicht kennst. Was sich gleich ändern wird.«
»Wir sind die United Nations in klein, non ?«, bemerkte Ahmed. »Abdel Khader Khan aus Afghanistan, Khaled aus Palästina, Mahmud aus dem Iran, du aus Neuseeland – Verzeihung, du bist ja unser Amerikaner – und ich aus Algerien.«
»Das reicht noch nicht«, ergänzte Khaled. »Es ist auch ein Mann aus Marokko dabei, einer aus den Golfstaaten, einer aus Tunesien, zwei aus Pakistan und einer aus dem Irak. Alle anderen stammen aus Afghanistan, aber aus unterschiedlichen Regionen und ethnischen Gruppen.«
»Jihad«, sagte Ahmed mit einem angespannten, beinahe furchtsamen Lächeln. »Heiliger Krieg – es ist unsere heilige Pflicht, uns den russischen Eindringlingen zu widersetzen und ein muslimisches Land zu befreien.«
»Sieh dich vor, Lin«, warnte Khaled mit gequälter Miene. »Ahmed ist Kommunist. Als Nächstes kommt er dir mit Mao und Lenin.«
»Aber bist du da nicht etwas … gehemmt?«, fragte ich, seiner Warnung zum Trotz. »Wenn du gegen eine sozialistische Armee kämpfen musst?«
»Sozialisten?«, versetzte er verächtlich. »Kommunisten? Versteh mich bitte nicht falsch, die Russen haben einiges Gute getan für Afghanistan –«
»Das stimmt«, warf Khaled ein. »Sie haben viele Brücken, die Hauptstraßen und eine Menge Schulen und Universitäten gebaut.«
»Und Staudämme, für Trinkwasser, und Elektrizitätswerke«, fuhr Ahmed fort. »Das ist alles gut, und ich habe sie unterstützt während dieser Hilfeleistungen. Doch als sie in Afghanistan einmarschiert sind, um das Land mit Gewalt zu verändern, haben sie alle Prinzipien verraten, an die sie angeblich glauben. So verhalten sich wahre Marxisten und Leninisten nicht. Die Russen sind Imperialisten, und ich kämpfe gegen sie im Namen von Marx, Lenin, Mao –«
»Und Allah«, warf Khaled grinsend ein.
»Ja, und Allah«, bestätigte Ahmed, strahlte uns mit seinen blendend weißen Zähnen an und schlug auf die Rückseite des
Weitere Kostenlose Bücher