Shantaram
künftig vorzubeugen, kopierten wir diese Varianten minutiös, fälschten sie und verlangten dafür höhere Preise.
»Das ist wie bei der Rote-Königin-Hypothese«, sagte ich zu Salman Mustaan, nachdem unsere neue Werkstatt sechs Monate lang erfolgreich im Einsatz war.
»Lak ka Rani?«, fragte er. »Rote Königin?«
»Ja. Der Begriff stammt aus der Biologie. Er bezieht sich auf Wirte, wie zum Beispiel menschliche Körper, und Parasiten wie Viren und dergleichen. Ich habe mich damit beschäftigt, als ich die Klinik im Zhopadpatti unterhielt. Die Wirte – unsere Körper – und die Viren – jeder Erreger, der uns krank macht – stehen im Wettbewerb miteinander. Wenn der Parasit angreift, entwickelt der Wirt eine Abwehr. Dann verändert sich der Virus, um die Abwehr zu überlisten, worauf der Wirt wiederum eine neue Gegenwehr entwickelt. Und so geht das immer weiter. Der Vergleich mit der Roten Königin stammt aus diesem Buch, Alice im Wunderland.«
»Kenne ich«, antwortete Salman. »Das haben wir in der Schule durchgenommen. Aber ich habe es nie richtig verstanden.«
»Das versteht keiner. Dieses Mädchen jedenfalls, Alice, begegnet der Roten Königin, die unglaublich schnell rennt, aber nie irgendein Ziel zu erreichen scheint. Sie sagt Alice, dass man in ihrem Land so schnell rennen muss, um an derselben Stelle zu bleiben. Und so geht es uns mit den Passbehörden und anderen Ämtern und Banken. Sie verändern die Dokumente, damit sie schwerer zu fälschen sind, aber wir entdecken neue Methoden, um sie zu fälschen. Sie denken sich wieder andere Formen aus, und wir kommen dahinter und ersinnen neue Möglichkeiten zur Fälschung. Das ist wie in der Geschichte mit der Roten Königin. Wir rennen alle furchtbar schnell, nur um auf der Stelle zu treten.«
»Ich finde nicht, dass du auf der Stelle trittst, Lin«, widersprach Salman ruhig, aber entschieden. »Du leistest hier erstklassige Arbeit. Der Ausweiszweig ist mörderisch – ein riesiger Markt mit ständiger Nachfrage. Und ihr seid wirklich gut. Bislang ist jeder, der mit unseren Papieren unterwegs war, problemlos durchgekommen. Und das ist auch der Anlass, weshalb wir dich heute zum Mittagessen treffen wollten. Ich habe eine Überraschung für dich – eine Art Geschenk, das dir bestimmt gefallen wird. Als eine Art Dankeschön, yaar, für deine hervorragende Arbeit.«
Ich sah Salman nicht an, während er sprach. Es war ein heißer wolkenloser Nachmittag, und wir gingen schnellen Schrittes die Mahatma Gandhi Road Richtung Regal Circle entlang. Der Fußweg war von Passanten blockiert, die bei den Straßenständen Halt machten, und wir bewegten uns auf der Straße, während neben uns der Verkehr vorbeiströmte. Ich sah Salman nicht an, weil ich ihn in den vergangenen sechs Monaten gut genug kennen gelernt hatte, um zu ahnen, dass ihm dieses überschwängliche Lob peinlich war. Salman war von Natur aus eine Führungspersönlichkeit, doch wie viele Männer, denen die Eigenschaft zu lenken und zu leiten innewohnt, war ihm jede Äußerung darüber unangenehm. Im Herzen war er ein bescheidener Mensch, und diese Bescheidenheit machte ihn zu einem ehrenhaften Mann.
Lettie hatte sich einmal verwundert und irritiert darüber gezeigt, dass ich Kriminelle, Killer und Mafiosi als Ehrenmänner bezeichnete. Ich denke, dass auf ihrer Seite ein Missverständnis vorlag. Sie verwechselte Ehre mit Tugendhaftigkeit. Tugendhaftigkeit bezieht sich auf das, was wir tun, Ehre dagegen darauf, wie wir etwas tun. Man kann einen Krieg auf ehrenhafte Weise führen – zu diesem Zweck wurde die Genfer Konvention beschlossen –, und man kann auf unehrenhafte Weise einen Frieden erzwingen. Ehre ist im Wesentlichen die Kunst, bescheiden zu sein. Und Gangster können ebenso wie Polizisten, Soldaten, Politiker und Männer des Glaubens ihre Aufgaben nur gut erledigen, wenn sie bescheiden bleiben.
»Weißt du«, sprach Salman weiter, als wir uns gegenüber des Universitätsgebäudes mit seinen Kreuzgängen auf den breiteren Fußweg begaben, »ich bin froh, dass es mit deinen Freunden nichts geworden ist – denen, die du zu Anfang mit reinnehmen wolltest.«
Ich runzelte die Stirn und zog es vor, erst einmal nichts zu sagen. Johnny Cigar und Kishore hatten nicht in die Passwerkstatt einsteigen wollen, was mich bestürzt und enttäuscht hatte. Ich war davon ausgegangen, dass sie die Chance, mit mir gemeinsam so viel Geld zu verdienen, wie sie es sich alleine nur erträumen konnten, begeistert
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