Shaolin - Das Geheimnis der inneren Staerke
schätzen. Und wir müssen bereit sein, den anderen so zu nehmen, wie er ist, ohne ihn zu bewerten oder ändern zu wollen. Wir achten ihn in gleicher Weise wie uns selbst, achten darauf, dass er sein Gesicht nicht verliert, seine Würde behält. Ohne diese Haltung würden wir nicht die richtigen Fragen stellen oder nicht aufmerksam genug zuhören. Voraussetzung dafür ist eine annehmende Haltung auch uns selbst gegenüber – so wie Sie es in den vorangegangenen Kapiteln lesen und üben konnten.
ÜBUNG
Rate, was ich fühle!
Suchen Sie sich für diese Übung einen Partner: Einer von beiden (zunächst Sie) imaginiert eine Situation, die in ihm ein bestimmtes Gefühl auslöst (etwa Ärger). Dabei ist es hilfreich, sich etwas Zeit zu nehmen (etwa eine Minute) und sich wirklich auf die Vorstellung einzulassen (sich also eine Situation intensiv vorzustellen, die in Ihnen Ärger auslöst), damit sich die entstehenden Gefühle im Körper ausbreiten können. Der Partner soll dann erraten, was Sie momentan fühlen. Dazu studiert er Ihren Gesichtsausdruck und Ihre Körperhaltung. Nach etwa zwei Minuten brechen Sie ab und tauschen sich mit dem Partner aus, was er wahrgenommen/gefühlt hat und ob er richtig oder falsch lag. Wichtiger ist in jedem Fall das genaue Wahrnehmen und Spüren als die richtige Lösung. Danach werden die Rollen getauscht. Mit dieser Übung können Sie Ihr Einfühlungsvermögen und Ihre Beobachtungsfähigkeit gezielt verbessern.
Ohne Partner können Sie auch auf einem belebten Platz oder in einem Straßencafé üben. Allerdings fehlt die anschließende Kontrolle, ob Ihre Beobachtungen richtig waren – es sei denn, Sie trauen sich, Passanten danach zu befragen. Der Überraschungseffekt ist sicher, und ihre Beobachtung prägt sich Ihnen umso besser ein!
Viele Menschen hadern mit der Zeit, weil sie zu wenig davon haben. Doch der Zeit ist kein Vorwurf zu machen. Wir selbst hindern uns daran, zur rechten Zeit das Richtige zu tun. Ich entwickle innere Stärke, indem ich mit Gelassenheit den Blick auf das Wesentliche richte – würden wir uns das zu Herzen nehmen, könnten wir bald aufhören, über Zeitmangel zu klagen.
DIE SHAOLIN-GESCHICHTE
Zweifelhafte Unternehmensberatung
Ein Fischer sitzt am Bootssteg, seine Beine baumeln, und er blickt aufs Meer hinaus. Da tritt ein wohlhabender Tourist zu ihm hin und fragt: »Waren Sie heute schon auf Fischfang?« Der Fischer nickt. »Fahren Sie noch einmal aus?« Der Fischer schüttelt den Kopf. »Aber es ist doch gutes Wetter, und Sie können, wenn Sie noch zwei- oder dreimal ausfahren, viel mehr Fische fangen!« Der Fischer blickt den Mann groß und zweifelnd an. Der Tourist, offensichtlich ein erfolgreicher Geschäftsmann, fährt fort: »Sie können mit den Einnahmen der weiteren Ausfahrten zusätzliche Fischkutter kaufen und Fischer anstellen und so die Ausbeute und die Gewinne steigern. Sie können bald eine eigene Fischfabrik aufbauen und … und … und …«
Begeistert redet der Geschäftsmann sich in Fahrt, macht den armen Fischer in Gedanken zu einem reichen Fischerei-Unternehmer. Er schließt mit den Worten: »Und wenn Sie das alles erreicht haben, guter Mann, dann – dann können Sie hier sitzen, den Tag genießen und aufs Meer hinausschauen!«
Der Fischer sieht ihn wieder an, blickt dann wieder aufs Meer hinaus und sagt: »Aber das habe ich doch gerade getan, bis Sie mich dabei gestört haben!«
Der
west-östliche Gegensatz
In der westlichen Welt ist die Vorstellung tief verwurzelt, es gäbe so etwas wie Beständigkeit und Ewigkeit. Darüber hinaus bestimmt wirtschaftliches Wachstum beinahe alle Lebensbereiche unserer Kultur. Beides hindert uns daran, mit Gelassenheit und Ruhe durch das Leben zu gehen. Allzu oft versuchen wir, verbissen etwas zu behalten oder zu erreichen, und haben das Gefühl dafür verloren, was uns guttut – beispielsweise dafür, dass wir Zeiten der Ruhe und der Aktivität brauchen, um innerlich stark und körperlich gesund zu bleiben, oder dafür, was zu welcher Zeit am besten zu tun ist. Vor allem, wenn es uns schlecht geht und wir das als unveränderlich betrachten, geraten wir in eine innere Unruhe, was uns psychisch und physisch schwächt. Und wenn es uns gut geht, dann stellt sich bald die Angst ein, diesen Zustand wieder zu verlieren, was unserer inneren Stärke ebenfalls abträglich ist.
In der buddhistischen Philosophie und damit auch in der Shaolin-Tradition wirkt eine völlig andere Grundeinsicht,
Weitere Kostenlose Bücher