Shaos Todeswelt
Computer diente Glenda als Einladung. Sie nahm vorsichtig Platz. Den Blick hielt sie dabei nach vorn gerichtet und konzentrierte sich ausschließlich auf den Bildschirm. Allmählich lösten sich dort die verschwommenen Bilder auf. Glenda konnte erkennen, dass der Monitor ein Gemälde zeigte, zumindest einen Ausschnitt eines elektronischen Gemäldes. Ihr kam in den Sinn, dass die Diskette einer CD-ROM eingelegt worden war. Bestimmt hatte Shao damit gespielt, aber sie war mitten in ihrem Spiel unterbrochen worden und hatte deshalb die Wohnung verlassen. Den Grund für diese Unterbrechung hätte Glenda gern erfahren. In ihrer Umgebung sichtbar war er nicht. Und sie hätte auch gern herausgefunden, wohin Shao verschwunden war.
Es blieb der Monitor.
Glenda Perkins runzelte die Stirn. Sie hatte es geschafft, sich von fremden Gedanken zu befreien. Jetzt konnte sie sich auf den Monitor konzentrieren.
Eine düstere Welt. Schatten herrschten dort vor. Grau und braun vermengten sich, als wollten sie alles andere in der Umgebung überdecken. Sie schafften es nicht. Immerhin gab es in der Düsternis auch etwas Licht. Glenda sah nur nicht, woher dieses Licht kam.
Oder doch?
Sie beugte sich noch weiter vor. Dabei öffnete sich ihr Mund, ohne dass sie es eigentlich gewollt hätte. Wie unter Zwang schüttelte sie den Kopf. »Das gibt es doch nicht«, hauchte sie, »das kann doch nicht wahr sein.« Sie hatte die Lichtquelle erkannt und presste die Hand gegen die Lippen. Es war keine natürliche Quelle. Das Licht drang tatsächlich aus den Augen einer Person, die auf einer Steinplatte hockte. Die Platte selbst ruhte auf zwei steinigen Beinen, so dass der Gegenstand Ähnlichkeit mit einem Altar bekommen hatte.
War die Frau auf dem Altar ein Opfer?
Glenda musste schlucken.
Da sich die Person nicht bewegte, kam sie ihr vor wie eine menschengroße Puppe. Dazu trug auch die sehr blasse Haut einen Teil mit bei. Das Kleid sah ebenfalls so aus, als wären verschiedene Schatten zusammengenäht worden, aber am wichtigsten waren die hellen Augen.
Für Glenda war diese Person fremd. Auf der anderen Seite jedoch kam sie ihr nicht so fremd vor. Zwar sah sie die Frau zum ersten Mal, doch es schien ihr, als hätte sie die Person schon einmal getroffen oder zumindest von ihr gehört.
Sie überlegte und fasste das zusammen, was sie bisher wusste oder auch nur ahnte.
Ihre Bekannte hatte Shao in dem Spiel entdeckt. Gut, sie war eine Person, die auch Glenda nicht unbekannt war. Die zweite Frau auf dem Altar ebenfalls.
Fremd, aber nicht unbekannt. Dann musste sie ebenfalls eine Figur aus dem Spiel sein. Und Shao?
Glenda schüttelte den Kopf.
Sie gab nicht auf, denn sie suchte weiter. Es war gut, dass sie es getan hatte, denn die Person auf der Altarplatte war nicht allein.
Es gab noch eine zweite. Sie hielt sich etwas am Rande auf, als wollte sie mit den dunklen Mauern der Umgebung verschmelzen. Aber sie war gut zu erkennen, als Glenda sich auf sie konzentrierte.
Dunkle Haare, ein fast nackter Oberkörper. Hohe Stiefel, ein breiter Gurt als Hose, zwei Armschützer bis hoch zu den Ellbogen. Dazu ein Gesicht, das sich kontrastreich von den schwarzen Haaren abhob.
Glenda hielt den Atem an. Diese Frau hatte sie oft genug gesehen. Sie kannte sie sogar ausnahmslos gut. Es war keine andere als Shao, die sich ihr beinahe unbekleidet präsentierte…
***
Diese Entdeckung zu verkraften, fiel Glenda nicht leicht. Zwar hätte sie nach den Aussagen ihrer Bekannten damit rechnen müssen, das war auch alles okay, doch zwischen Theorie und Praxis klafften manchmal große Lücken. Das erlebte sie hier wieder, und sie kam mit diesem Anblick einfach nicht zurecht.
Zugleich wusste sie, dass sich Grace Simonis nicht geirrt hatte. Die Person Shao war tatsächlich zu einem Teil dieses Spiels geworden. Natürlich konnte man sich darüber Gedanken machen, das musste man sogar, doch hier eine Lösung zu finden, war kaum möglich.
Glenda fühlte sich mehr als schlecht. In ihrem Kopf hatten kleine Hämmer damit begonnen, ihre Arbeit aufzunehmen. Ihr war kalt und heiß zugleich. Auf der Stirn lagen kleine Perlen aus Schweiß.
Glenda war längst klar, dass sie sich auf der richtigen Spur befand. Sie hatte den Riecher gehabt, und sie würde die Spur auch unter allen Umständen weiterverfolgen.
Noch musste sie ihre Gedanken ordnen. Glenda war einfach zu überrascht durch Shaos Erscheinen, und sie fragte sich auch, ob sie es hier mit der echten Shao zu tun
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