Shardik
unseren Augen steht, und was vor unseren Augen steht, ist eben Shardik, so ist das.«
Elleroth lehnte sich, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, vor und neigte den Kopf, als er ernst und leise sagte:
»Dann laß mich dir etwas sagen, Mollo, was du offensichtlich nicht weißt. Bist du dir darüber klar, daß die ganze Anbetung Shardiks, wie sie hier in Bekla vor sich geht, in bewußtem Gegensatz zu dem traditionellen und orthodoxen Kult der Ortelganer steht, dessen rechtmäßiges Oberhaupt dieser Mann, den sie Crendrik nennen, nicht ist und niemals war?«
Mollo starrte ihn an. »Was?«
»Du glaubst mir nicht, oder?«
»Ich werde mit dir nicht streiten, Elleroth, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, aber ich genieße Autorität bei diesen Leuten – sagen wir, ich verdanke ihnen meine Stellung, so ist es –, und du willst nun, ich soll glauben, daß sie – «
»Hör mich an.« Elleroth sah sich rasch um, dann fuhr er fort: »Es ist nicht das erstemal, daß diese Leute in Bekla herrschen. Es war vor langer Zeit schon einmal der Fall; und auch damals verehrten sie einen Bären. Aber der wurde nicht hier gehalten, sondern auf einer Insel im Telthearna, Quiso. Der Kult wurde von Frauen geleitet – es gab keinen Priesterkönig, kein Auge Gottes. Als sie aber schließlich Bekla verloren und der Macht verlustig gingen, sorgten ihre Feinde dafür, daß sie keinen Bären mehr hatten. Die Oberpriesterin und die anderen Frauen durften auf der Insel bleiben, aber ohne einen Bären.«
»Nun ist der Bär aber endlich zurückgekehrt. Ist das kein sicheres Zeichen?«
»Ach, warte nur, mein guter, rechtschaffener Mollo. Noch ist nicht alles erzählt. Als der Bär wiederkam, wie du es nennst – als sie dieses neue Exemplar erhielten, gab es eine Oberpriesterin auf der Insel, eine Frau, die den Ruf hatte, sehr klug zu sein. Sie weiß mehr über Krankheit und Heilung als irgendein Arzt südlich des Telthearnas – oder auch nördlich davon, glaube ich. Sie hat zweifellos viele bemerkenswerte Heilungen vollbracht.«
»Ich glaube, ich habe schon von ihr gehört, da du sie jetzt erwähnst, aber nicht im Zusammenhang mit Shardik.«
»Als dieser Bär vor fünf oder sechs Jahren zum erstenmal auftauchte, war sie das anerkannte und unbestrittene Oberhaupt des Kultes, ihre Stellung war seit undenklichen Zeiten vererbt worden. Und diese Frau wollte mit dem Angriff gegen Bekla nichts zu tun haben. Sie verfocht konsequent die Ansicht, daß der Angriff nicht Gottes Wille war, sondern ein Mißbrauch des Bärenkultes; und deshalb wurde sie, zusammen mit einigen ihrer Priesterinnen, auf jener Insel im Telthearna praktisch gefangengehalten, obwohl der Bär – ihr Bär – in Bekla gehalten wird.«
»Warum hat man sie nicht ermordet?«
»Ach, mein lieber Mollo, du scharfsinniger Realist – immer geradeaus zum entscheidenden Punkt. Warum wurde sie wirklich nicht ermordet? Ich weiß es nicht, wage aber zu behaupten, daß man sie als Zauberin fürchtet. Was sie sich bewahrt hat, ist zweifellos ihr Ruf als Heilkundige. Darum entschloß sich mein Schwager im vergangenen Spätsommer zu der zweihundertfünfzig Kilometer weiten Reise, um sich von ihr behandeln zu lassen.«
»Dein Schwager? So ist denn Ammar-Tiltheh verheiratet?«
»Ja, sie ist verheiratet. Ach, Mollo, erkenne ich einen leisen Schatten, der, gleichsam aus alten Erinnerungen aufsteigend, über dein Gesicht streicht? Auch sie erinnert sich deiner in freundlichster Weise und hat nicht vergessen, wie sie dich nach der Verwundung pflegte, die du dir zuzogst, als du so leichtsinnig warst, mich zu retten. Nun, Sildain ist ein sehr kluger, vernünftiger Mann – ich schätze ihn. Vor ungefähr einem Jahr bekam er eine Infektion am Arm. Sie heilte nicht, und niemand in Lapan konnte etwas dagegen tun, so setzte er es sich schließlich in den Kopf, diese Frau aufzusuchen. Er hatte große Mühe, auf die Insel zu gelangen – die Frau wird, scheint es, so ziemlich abgeschlossen von der Außenwelt gehalten. Schließlich ließen sie ihn aber durch, teils weil er sie bestach, teils weil sie sahen, daß er wahrscheinlich sterben würde, wenn sie ihn nicht auf die Insel ließen. Damals ging es ihm schon recht schlecht. Sie heilte ihn tatsächlich – anscheinend ganz einfach, indem sie irgendwelche Schimmelpilze auflegte; das ist der Ärger mit den Ärzten, sie befehlen einem immer etwas Widerwärtiges, zum Beispiel, Fledermausblut zu trinken – noch einen Schluck Wein? Aber bei
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