Shardik
Hunger und Entbehrungen.«
»Ich bin schwindlig, das ist schon richtig«, antwortete Radu, »aber deshalb sehe ich nur klarer. Wenn du nicht glaubst, daß es wahr ist, warte nur ab.« Er nickte in Richtung zu Shara. »Nur um ihretwillen habe ich nicht eingewilligt«, sagte er. »Genshed wollte, ich solle anstelle von Bled Aufseher werden. Bled ist zu einer Plage für ihn geworden – man kann sich nicht darauf verlassen, daß Bled nicht einen Jungen zum Krüppel oder totschlägt. Seit Lapan hat Bled drei Jungen getötet, weißt du.«
»Würde es dir nicht eine Fluchtmöglichkeit bieten, wenn du Aufseher würdest?«
»Vielleicht – bei jedem anderen als Genshed.«
»Aber hat er denn nur versucht, dich zu überreden, Aufseher zu werden? Hat er dir nicht gedroht? Du sagtest mir, er habe einmal die Fliegenfalle bei dir verwendet.«
»Das war, weil ich Schreihals schlug, um ihn daran zu hindern, sich mit Shara zu befassen. Genshed würde niemals einen Jungen bedrohen, um ihn zu veranlassen, Aufseher zu werden. Wenn einer Aufseher werden soll, muß er es selbst wollen. Er muß Genshed aus eigenem Antrieb bewundern und sich seiner würdig erweisen wollen. Natürlich will Genshed Lösegeld für mich bekommen, aber wenn er mich überreden könnte, Aufseher zu werden, würde das noch mehr für ihn bedeuten, glaube ich. Er will das Gefühl haben, daß es ihm gelungen ist, den Sohn eines Adeligen so schlecht zu machen, wie er selbst es ist.«
»Aber du wirst ihm doch wohl nicht nachgeben, solange er dich nicht bedroht?«
Radu schwieg, er schien zu zögern, bevor er sich Kelderek anvertraute. Dann sagte er ruhig: »Gott hat nachgegeben. Entweder ist es so, oder Er hat keine Macht über Genshed. Ich will dir etwas erzählen, das ich nie vergessen werde. Vor Thettit gab es einen Jungen bei uns – ein ungeschlachter, watschelnder Kerl namens Bellin. Er hätte den Vrako nie überqueren können, er war unbeholfen und ein wenig einfältig. Genshed bot ihn zusammen mit den Mädchen zum Verkauf an. Der Mann, der ihn kaufte, sagte Genshed, er wolle einen Berufsbettler aus ihm machen; er habe mehrere solche und lebe von ihren Einkünften. Er wollte Bellin verstümmeln lassen, damit er beim Betteln Mitleid erregte. Genshed hackte Bellins Hände ab und steckte dessen Gelenke in kochendes Pech, um die Blutung zu stoppen. Er ließ sich dafür von dem Mann dreiundvierzig Meld bezahlen; das sei sein Tarif für diese Arbeit.«
Er wandte sich ab, riß eine Handvoll Blätter von einem Busch und begann, sie zu essen. Nach einer Weile tat Kelderek das gleiche. Die Blätter waren sauer und faserig, und er kaute sie gierig.
»Vorwärts! Vorwärts!« brüllte Schreihals und schlug mit dem Stock auf die Wasserfläche. »Auf eure Dreckfüße! Nach Linsho – dort gibt es was zu essen, nicht hier!«
Radu erhob sich, schwankte ein wenig und taumelte gegen Kelderek.
»Der Hunger«, sagte er. »Es ist gleich wieder vorbei.« Er rief Shara, die herangelaufen kam; sie hatte einen Streifen aus farbigem Wasserkraut um einen ihrer dünnen Arme gewunden. »Eines hab ich gelernt: Hunger ist die eine Form der Marter. Wenn wir nach Linsho kommen und es gibt dort für Aufseher mehr zu essen als für Sklaven, könnte ich vielleicht doch Aufseher werden. Grausamkeit und Böses – die liegen bei keinem sehr tief unter der Oberfläche; man muß nur danach graben, weißt du.«
51. Der Durchlaß bei Linsho
Später am Nachmittag kamen sie zu einer großen Flußbiegung, und Genshed hielt sich wieder landeinwärts, um die Halbinsel zu überqueren. Die feuchte Hitze des Waldes wurde eine Qual. Den Kindern, von denen einige nicht einmal mehr die Energie besaßen, die Fliegen von ihren Gesichtern zu scheuchen, wurde befohlen, nahe beisammen zu bleiben und einander an den Schultern zu fassen, so daß sie gleich einer gespenstischen Kette blöder Krüppel vorwärts krochen; viele hielten ihre von Insekten geschwärzten Lider gesenkt. Der vor Kelderek gehende Knabe schluchzte dauernd leise und rhythmisch vor sich hin – »Ah-hu! Ah-hu!« –, bis schließlich Bled sich auf ihn stürzte und unter einem Strom von Flüchen mit seiner Stockspitze auf die Beine des Knaben losstach. Der Knabe fiel blutend zu Boden, und Genshed mußte den Zug anhalten lassen, um die Wunden zu stillen. Darauf setzte er sich mit dem Rücken an einen Baum, pfiff durch die Zähne und kramte in den Tiefen seines Bündels.
Kelderek trat impulsiv zu ihm hin.
»Kannst du mir sagen, warum
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