Shardik
Kelderek und Radu zu, befreite sie, nahm den Feuertopf ab, den er noch in einer Hand trug, und blies die schwelenden Zweige und das Moos zu einer Glut. Darin tauchte er die Spitze seines Messers.
»Nun hör mir mal zu, Radu!« sagte er. »Zuerst wirst du dieses Messer in Herrn Crendriks Augen stechen – in beide. Wenn du es nicht tust, steche ich es in deine Augen, verstanden? Dann wirst du mit mir dort hinuntergehen, die Vertäuung losmachen und den Stein ins Wasser schleudern. Das wird mit dem Bestand aufräumen, den wir zurücklassen müssen. Dann können wir, du und ich und vielleicht Schreihals, wenn ich mich nicht anders besinne, uns fortmachen. Die Zeit drängt, also beeile dich.«
Er packte Keldereks Schulter und zwang ihn auf die Knie vor Radus Füßen. Radu war noch immer mit dem Seil geknebelt, er ließ das Messer fallen, das ihm Genshed in die Hand legte. Es blieb im Boden stecken, aus einem durchbohrten und glimmenden Stück Holz stieg eine Rauchfahne hoch. Genshed ergriff das Messer, erhitzte es nochmals und gab es Radu wieder, dem er zugleich die linke Hand auf den Rücken drehte und den Knebel aus dem Mund nahm; den Knebel warf er ins Wasser.
»Um Himmels willen!« rief Schreihals verzweifelt. »Ich sage dir, Genshed, es ist keine Zeit für solche Späße! Kannst du nicht mit dem Zeitvertreib warten, bis wir wieder in Terekenalt sind? Die Ikats, die Scheißikats kommen! Erschlag das Schwein, wenn du mußt, aber komm schon!«
»Erschlag die ganze Drecksbande!« flüsterte Genshed entzückt. »Vorwärts, Radu, tu es! Tu es, Radu! Wenn du willst, führe ich deine Hand, aber du mußt es tun!«
Radu hatte schon, gleichsam in Trance und willenlos, das Messer gehoben, als er sich plötzlich mit einer krampfhaften Bewegung aus Gensheds Griff loswand.
»Nein!« schrie er. »Kelderek!«
Kelderek erhob sich langsam, als hätte ihn der Schrei geweckt. Sein Mund stand offen, und er hielt eine Hand, deren gespaltener Fingernagel mit einer wulstigen, schmutzigen Kruste bedeckt war, in einer schwachen Verteidigungsgebärde vor sich. Dann blickte er Genshed an, sprach aber unsicher wie zu jemand anderem: »Gottes Wille muß geschehen, Herr. Die Sache ist größer als selbst dein Messer.«
Genshed entriß Radu das Messer, stieß nach Kelderek, und der Stich riß eine lange Wunde an dessen Unterarm. Er gab keinen Laut von sich und blieb stehen, wo er war.
»Ach, Crendrik«, sagte Genshed, faßte ihn am Handgelenk und hob wieder das Messer, »Crendrik von Bekla – «
»Ich heiße nicht Crendrik, sondern Kelderek, der Kinderspielfreund. Laß den Jungen in Frieden!«
Genshed stach ein zweites Mal auf ihn ein. Die Messerspitze drang zwischen den kleinen Ellbogenknochen ein und riß Kelderek wieder in die Knie. Zur selben Zeit wies Schreihals mit einem Aufschrei auf das Ufer.
Auf halbem Weg zwischen den an den Stein geketteten Kindern und der höher liegenden Stelle, wo Genshed über der Mitte der Bucht stand, teilte sich das Unterholz, und ein großer Ast fiel nach vorn über den Pfad, überschlug sich und glitt langsam ins Wasser. Gleich darauf öffnete sich der Spalt weiter und enthüllte den Leib eines riesigen, zottigen Geschöpfes. Dann stand Shardik am Ufer und äugte nach oben auf die vier über ihm stehenden Menschen.
Ach, unser Herr Shardik, der Höchste, Göttliche, gesandt von Gott aus Feuer und Wasser: unser Herr Shardik von den Terrassen! Du, der du zwischen den Trepsisranken in den Wäldern von Ortelga erwachtest, um der Habgier und Bosheit im Herzen des Menschen anheimzufallen! Shardik, der Sieger, der Gefangene von Bekla, Herr der blutigen Wunden; du, der die Ebene durchquerte, der lebend aus den Streels hervorkam, unser Herr Shardik aus Wald und Bergen, Shardik vom Telthearna! Hast auch du gelitten bis zum Tode, hilflos wie ein Kind in den Händen grausamer Menschen, und will der Tod nicht kommen? Shardik, unser Herr, rette uns! Gedenke der brennenden und eitrigen Wunden, des Schwimmens durch den tiefen Fluß deines Drogenrausches und des wilden Sieges, deiner langen Gefangenschaft und der erschöpfenden, vergeblichen Reise, deiner Not und Qual, des Verlustes und der Bitternis deines frommen Todes: rette deine Kinder, die dich nicht fürchten noch kennen! Bei Farn und Felsen und Fluß, bei der Schönheit des Kynats und der Weisheit der Terrassen, o höre uns, besudelt und verloren, die wir dein Leben zerstörten und dich anrufen! Laß uns sterben, unser Herr Shardik, laß uns mit dir sterben,
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