Sharpes Feuerprobe
war, und damals hatte McCandless die ungewöhnlichen Steinmetzarbeiten bewundert, die jeden Zoll der Tempelwände bedeckten. Die Religion des Schotten war von so viel Verzierung beleidigt, aber er war ein zu ehrlicher Mann, um abzustreiten, dass die alten Steinmetze fabelhafte Kunsthandwerker gewesen waren, denn die Bildhauerwerke hier waren fein, wenn nicht sogar schöner als alles, was im mittelalterlichen Europa geschaffen worden war.
Das fahle gelbe Licht seiner Laterne fiel auf herausgeputzte Elefanten, grimmige Götter und marschierende Armeen, alle aus Stein geschaffen. Er kletterte die Treppe zum mittleren Schrein empor, ging zwischen hohen Säulen hindurch und gelangte in das Heiligtum. Das Dach unter dem hohen verzierten Turm war wie Lotusblüten geformt. Die Gottheiten starrten aus ihren Nischen mit Blumen, und Blätter trockneten zu ihren Füßen.
Der Colonel stellte die Laterne auf den Boden, setzte sich im Schneidersitz hin und wartete. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche der Nacht jenseits der Mauern des Tempels.
McCandless war mit einer Eskorte von sechs indischen Lanzenreitern zu diesem abgelegenen Tempel gekommen und hatte diese Eskorte zwei Meilen entfernt zurückgelassen, damit der Mann, den er zu treffen hoffte, sich nicht abgeschreckt fühlte. So wartete er jetzt mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen, und nach einer Weile hörte er das Trommeln von Hufen auf der trockenen Erde und das Klirren von Gebissketten. Dann herrschte Stille, und er wartete weiter mit geschlossenen Augen.
»Wenn Sie nicht in dieser Uniform wären«, sagte ein paar Augenblicke später jemand, »würde ich annehmen, Sie sind im Gebet versunken.«
»Die Uniform macht mich nicht zum Beten untauglich, und Ihre verbietet es Ihnen auch nicht«, erwiderte der Colonel und öffnete die Augen. Er stand auf. »Willkommen, General.«
Der Mann, der McCandless gegenüberstand, war jünger als der Schotte, doch genauso groß und schlank.
Appah Rao war jetzt ein General in den Streitkräften des Tippu Sultan, aber einst, vor vielen Jahren, war er Offizier in einem von McCandless’ Sepoy-Bataillonen gewesen, und diese alte Bekanntschaft, die zu Freundschaft geworden war, hatte McCandless dazu bewogen, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um mit Appah Rao zu reden.
Appah Rao hatte unter McCandless’ Befehlen gedient, bis sein Vater gestorben war, und dann, ausgebildet als Soldat, war er nach Maisur zurückgekehrt. Heute hatte er von dem Höhenkamm aus beobachtet, wie Tippus Infanterie von einer einzigen britischen Salve massakriert worden war. Dies hatte ihn verbittert, doch er zwang Höflichkeit in seine Stimme.
»Sie leben also noch, Major?« Appah Rao sprach auf Kanarese, der Sprache der eingeborenen Mysoreaner.
»Ich lebe noch und bin jetzt ein Colonel«, antwortete McCandless in derselben Sprache. »Sollen wir Platz nehmen?«
Appah Rao stieß einen Grunzlaut aus und setzte sich dann gegenüber von McCandless hin. Hinter ihnen, jenseits des eingesunkenen Hofes am Tor des Tempels, standen zwei Soldaten. Sie waren Appah Raos Eskorte, und McCandless wusste, dass es vertrauenswürdige Männer waren, denn wenn Tippu Sultan jemals herausfinden würde, dass dieses Treffen stattgefunden hatte, würden Appah Rao und seine gesamte Familie getötet werden. Es sei denn natürlich, Tippu wusste bereits davon und benutzte Appah Rao, um seinerseits Zwietracht zu säen.
Der General des Sultans war bekleidet mit dem tigergestreiften Uniformrock des Herrn, doch darüber trug er eine Schärpe aus feinster Seide, und über seine Schulter war eine zweite Seidenschärpe geschlungen, an der ein Säbel mit goldenem Griff hing. Seine Stiefel waren aus rotem Leder, und sein Turban hatte ein Band aus blassroter Seide, auf dem ein hellblauer Juwel im Schein der Laterne funkelte.
»Waren Sie heute in Malavelly?«, fragte er McCandless.
»Das war ich«, sagte McCandless. Malavelly war der nächste Ort, bei dem die Schlacht geschlagen worden war.
»Sie wissen also, was geschehen ist?«
»Ich weiß, dass Tippu Hunderte Ihrer Leute geopfert hat«, sagte McCandless. »Ihrer Leute, General, nicht seiner.«
Appah Rao ging über die spitzfindige Unterscheidung hinweg. »Die Leute folgen ihm.«
»Weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Sie folgen ihm, aber lieben sie ihn?«
»Einige tun das«, antwortete Appah Rao. »Aber was macht das schon? Warum sollte ein Herrscher wünschen, dass seine Leute ihn lieben? Ihren
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