Sharpes Flucht
zuwider«, bekannte Sarah wütend und ließ einen zweiten Hieb folgen. »Und Unhöflichkeit ist mir ebenfalls zuwider, und wenn du keine guten Manieren an den Tag legst, werde ich deinen Vater bitten, dir Prügel zu verabreichen.«
Bei der Erwähnung von Major Ferreira waren die beiden Kinder mit einem Schlag aufmerksam. Düstere Stimmung senkte sich über den Unterrichtsraum, während sich Tomas durch die nächste Seite kämpfte. Für ein portugiesisches Kind war es unerlässlich, Englisch und Französisch zu lernen, wenn es als Erwachsener zu den Edelleuten gezählt werden wollte. Sarah fragte sich, warum sie nicht Spanisch lernten, aber als sie dem Major diesen Vorschlag unterbreitet hatte, hatte er sie wutschnaubend angesehen. Die Spanier, so hatte er erläutert, stammten von Ziegen und Affen ab, und seine Kinder würden ihre Zungen nicht mit der Sprache dieser Wilden beschmutzen. Also wurden Tomas und Maria von ihrer zweiundzwanzigjährigen, blauäugigen, blonden Gouvernante, die sich um ihre eigene Zukunft sorgte, in Englisch und Französisch unterrichtet.
Ihr Vater war gestorben, als Sarah zehn Jahre alt gewesen war. Ein Jahr darauf starb auch ihre Mutter, und Sarah war von einem Onkel aufgezogen worden, der widerwillig ihr Schulgeld bezahlt hatte, sich jedoch weigerte, ihr irgendeine Art von Mitgift zur Verfügung zu stellen, als sie achtzehn wurde. Mithin blieb ihr der lukrativere Teil des Heiratsmarkts versperrt, und sie wurde stattdessen Kindermädchen für die Sprösslinge eines englischen Diplomaten, der in Lissabon stationiert war. Dort hatte Major Ferreiras Frau sie kennengelernt und ihr angeboten, ihr ein doppelt so hohes Gehalt zu zahlen, wenn sie ihre beiden Kinder unterrichten würde. »Ich möchte, dass unsere Kinder Schliff erhalten«, hatte Beatriz Ferreira gesagt.
So war Sarah nach Coimbra gekommen, verpasste den Kindern Schliff und zählte die schweren Schläge der großen Uhr in der Halle, während Tomas und Maria abwechselnd aus »Frühe Freuden für kindliche Seelen« vorlasen. »Die Kuh ist nacktfarben«, las Maria.
»Nachtfarben«, verbesserte Sarah.
»Was ist nachtfarben?«
»Schwarz.«
»Und warum steht da dann nicht schwarz?«
»Weil da eben nachtfarben steht. Lies weiter.«
»Warum brechen wir nicht auf?«, fragte Maria.
»Diese Frage musst du deinem Vater stellen«, erwiderte Sarah und wünschte, sie hätte die Antwort selbst gekannt. Coimbra sollte allem Anschein nach den Franzosen überlassen werden, aber die, die das Sagen hatten, bestanden darauf, dass der Feind nichts als nackte Gebäude in der Stadt vorfinden durfte. Jedes Warenlager, jede Vorratskammer, jedes Geschäft sollte leer sein wie das Loch von Kirchenmäusen. Die Franzosen sollten in ein geplündertes Land einmarschieren und Hunger leiden, aber als Sarah sich mit ihren beiden jungen Schützlingen zu ihrem täglichen Spaziergang aufmachte, kam es ihr vor, als wären die meisten Lagerhäuser noch voll, und an den Kais am Fluss häuften sich britische Besitztümer zu Bergen. Ein paar der reichen Leute waren aufgebrochen und hatten ihren Besitz auf Wagen mitgenommen, doch Major Ferreira hatte offenbar beschlossen, bis zum letzten Augenblick zu warten. Er hatte Anweisung gegeben, das beste Mobiliar zur Vorbereitung auf einen Wagen laden zu lassen, aber er schien merkwürdig widerwillig, Coimbra zu verlassen. Bevor der Major nach Norden geritten war, um sich der Armee anzuschließen, hatte Sarah ihn gefragt, warum er den Haushalt nicht nach Lissabon schickte, und er hatte sie mit seinen glühenden Augen angestarrt, sichtlich verstört von ihrer Frage, dann aber hatte er ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen.
Sie tat es aber trotzdem, und um Major Ferreira war sie ebenfalls besorgt. Er war ein großzügiger Arbeitgeber, doch der obersten Schicht der portugiesischen Gesellschaft entstammte er nicht. Unter Ferreiras Vorfahren befanden sich keine Aristokraten, es gab keine Titel und keinen größeren Landbesitz. Sein Vater war ein Professor der Philosophie gewesen, der unerwartet das Vermögen eines entfernten Verwandten geerbt hatte. Dieses Erbe ermöglichte es Major Ferreira, gut, aber keinesfalls im Überfluss zu leben. Eine Gouvernante wurde nicht danach beurteilt, wie gut sie mit den ihr anvertrauten Kindern zurechtkam, sondern nach dem sozialen Status der Familie, bei der sie angestellt war, und in Coimbra konnte Major Ferreira weder die Vorzüge der Aristokratie vorweisen, noch verfügte er über die
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