Sharpes Flucht
müssen. Aber um ihn zu finden, müssen wir nach seinem Bruder suchen.«
Vicente nickte zustimmend. »Wenn wir zurückkommen, waren wir also nicht einfach abwesend, sondern wir haben etwas Nützliches getan?«
»Und statt über uns herzufallen«, sagte Sharpe, »werden sie sich bei uns bedanken.«
»Sobald die Franzosen weg sind, suchen wir also nach Ferreira? Und dann verhaften wir ihn und marschieren mit ihm nach Süden?«
»Einfach, oder?«, fragte Sharpe mit einem Lächeln.
»Ich bin nicht so gut darin wie du.«
»Gut in was?«
»Darin, ohne mein Regiment zu sein. Allein zu sein.«
»Du vermisst Kate, was?«
»Ja, Kate vermisse ich auch.«
»Du solltest sie auch vermissen«, sagte Sharpe, »und du bist gut darin, Jorge. Du kannst verdammt noch mal jedem in der Armee das Wasser reichen, und wenn du ihnen Ferreira bringst, werden sie glauben, du bist ein Held. Und dann bist du in zwei Jahren Oberst, und ich bin immer noch Captain, und du würdest dir wünschen, wir hätten dieses Gespräch nie geführt. Und jetzt ist es Zeit, Tee zu machen, Jorge.«
Die Franzosen brachen auf. Der größte Teil des Tages verstrich, ehe die Geschütze, Wagen, Pferde und Männer die Brücke von Santa Clara überquert, sich durch die engen, gewundenen Gassen darunter gezwängt hatten und dann auf die Hauptstraße gelangt waren, die sie nach Süden, nach Lissabon, führen würde. Den ganzen Tag über zogen Patrouillen durch die Straßen, die in ihre Hörner bliesen und Männer durch Rufe aufforderten, zu ihren Einheiten zurückzukehren. Es war bereits später Nachmittag, als das letzte Hornsignal verklang und der Lärm der Stiefeltritte, Hufe und Räder aus Coimbra verschwand.
Ganz waren die Franzosen nicht abgezogen. Über dreitausend Verwundete waren in dem großen Kloster von Santa Clara südlich des Flusses zurückgelassen worden, und diese Männer brauchten Schutz. Die Franzosen waren raubend, mordend und plündernd durch die Stadt gezogen, und verwundete Soldaten waren für Racheakte ein leichtes Ziel, weshalb die Verletzten von hundertfünfzig französischen Marinesoldaten bewacht wurden. Dreihundert Genesende, die noch nicht die Kraft hatten, mit der Armee zu marschieren, aber dennoch eine Muskete halten konnten, verstärkten sie. Die kleine Garnison wurde von einem Major befehligt, dem man den grandiosen Titel Gouverneur von Coimbra verliehen hatte, aber die geringe Anzahl der Männer unter seinem Kommando verschaffte ihm keine Kontrolle über die Stadt. Er postierte den größten Teil seiner Streitmacht vor dem Kloster, denn dort lagen ja die verwundeten Männer, außerdem stellte er Wachtposten an den Hauptstraßen auf, die aus der Stadt führten, aber alles, was dazwischenlag, blieb unbewacht.
Und so strömten die Einwohner, die überlebt hatten, in die Straßen ihrer verwüsteten Stadt. Ihre Kirchen, Schulen und Straßen waren überfüllt mit Leichen und Abfällen. Es gab Hunderte von Toten, und das Wehklagen der Trauernden hallte in den Gassen wider. Die Leute gierten nach Rache, und die geweißten Mauern des Klosters wurden von Musketenkugeln durchsiebt, als Männer und Frauen blindlings auf das Gebäude, in das sich die Franzosen zurückgezogen hatten, feuerten. Mancher war sogar unvernünftig genug, das Kloster anzugreifen, wurde jedoch von Salven aus Fenstern und Türen niedergemäht.
Nach einer Weile nahm der Wahn ein Ende. Die Toten lagen draußen vor dem Kloster in den Straßen, und die Franzosen hatten sich drinnen verbarrikadiert. Die kleinen Wachtruppen auf den Außenstraßen, von denen keine mehr als drei Mann umfasste, verschanzten sich in Häusern und warteten darauf, dass Marschall Masséna die Feinde niedermachte und Verstärkung nach Coimbra schickte.
Sharpe und seine Gefährten verließen ihr Haus kurz nach dem Morgengrauen. Sie trugen jetzt wieder ihre eigenen Uniformen, dennoch wurden sie innerhalb der ersten fünf Minuten zweimal von wütenden Frauen verflucht, und Sharpe begriff, dass die Bewohner der Stadt die grünen und braunen Uniformen nicht erkannten. Daher zogen die Männer, ehe jemand versuchte, sie aus einer Gasse heraus zu erschießen, ihre Röcke aus, hängten sich ihre Tschakos an die Gürtel und gingen in Hemdsärmeln weiter. Sie kamen an einem Priester vorbei, der auf der Straße kniete, um drei toten Männern die letzte Ölung zu erteilen. Ein weinendes Kind hielt sich an einer der toten Hände fest, aber der Priester löste den Griff des Mädchens von den steifen Fingern
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