Sharpes Flucht
in die Riemen legte.
»Die Flut«, sagte Vicente.
»Die Flut?«
»Sie kommt den Fluss herauf«, sagte Vicente, »und sie trägt uns zurück. Zumindest versucht sie es. Aber sie wird ja umschlagen.«
Sharpe erwog, ans Südufer zu fahren und das Boot dort festzumachen, dann aber stellte er sich vor, wie die Ferreira-Brüder, die ja nicht allzu weit hinter ihnen sein konnten, im Nebel an ihnen vorbeigleiten mochten, und somit pullten er und Harper mit aller Kraft, bis sie vom Kampf gegen die Flut Blasen an den Händen hatten. Der Nebel wurde lichter, die Flut ließ endlich nach, und eine Möwe flog über ihre Köpfe hinweg.
Sie waren noch immer meilenweit vom Meer entfernt, aber in der Luft lag der Geruch nach Salz und das Wasser war brackig. Der Tag erwärmte sich, und davon schien sich der Nebel wieder zu verdichten, der wie Pulverrauch in Schwaden über das wirbelnde graue Wasser zog.
Sie mussten näher ans nördliche Ufer rudern, um den verhedderten Überresten einer Falle aus Fischnetzen, Weidenruten und Stangen auszuweichen, die vom Ostufer ins Wasser ragte. Am Nordufer ließ sich keine Bewegung ausmachen, sie schienen allein auf dem blassen Fluss unter einem perlenden Himmel, doch dann ertönte von vorn der unverwechselbare Knall einer Kanone. Vögel flatterten aus den Bäumen am Ufer auf und flogen in Kreisen, während der Lärm von unsichtbaren Hügeln widerhallte und durch das Flusstal dröhnte.
»Ich kann nichts sehen«, berichtete Vicente vom Bug aus.
Sharpe und Harper hatten sich auf ihre Riemen gestützt, und beide fuhren herum, um nach vorn zu sehen, aber da war nur der Nebel über dem Fluss. Ein weiterer Kanonenschuss ertönte, und Sharpe glaubte, er könne erkennen, wie sich eine Nebelschwade verdichtete, dann pullte er zwei weitere Stöße, und dann, wie ein von Wolken umhülltes Geisterschiff, tauchte das Kanonenboot auf, das auf das nördliche Ufer feuerte. Dragoner waren dort, im Nebel nur halb zu sehen, und das Kanonenfeuer trieb sie auseinander. Noch eine Kanone wurde vom Boot, das mitten auf dem Fluss verankert war, abgefeuert, und eine Kartätschenladung mähte zwei Pferde nieder. Sharpe sah eine jähe Fontäne Blut, die den Nebel färbte und gleich darauf wieder verschwunden war. Dann feuerte die Bugkanone des Schiffs, und eine Kugel sprang mehrere Yards vor dem Ruderboot übers Wasser. Es war ein Warnschuss gewesen. Auf der vorderen Plattform des Kanonenboots stand ein Mann, der ihnen zurief, sie sollten bei ihnen anlegen.
»Es sind Engländer«, sagte Vicente. Er stand am Bug des Kahns und winkte mit beiden Armen, während Sharpe und Harper auf das Kanonenboot zuhielten, das sechs Stückpforten hatte. Eine weiße Fahne hing am Heck, während der Union Jack am Mast flatterte.
»Hierher!«, brüllte der Mann. »Bringt das verdammte Boot hierher!«
Die beiden Heckkanonen feuerten hinter den Dragonern her, die sich zurückzogen. Die Männer galoppierten in den Nebel hinein und ließen tote Pferde zurück. Drei Seeleute mit Musketen erwarteten das Boot und richteten ihre Waffen auf sie.
»Spricht einer von Ihnen Englisch?«, rief ein anderer Mann.
»Mein Name ist Captain Sharpe.«
»Wie?«
»Captain Sharpe, South Essex Regiment. Und richten Sie diese Musketen verdammt noch mal irgendwo anders hin.«
»Sie Sind Engländer?« Die Verblüffung mochte von Sharpes Erscheinungsbild herrühren, denn er trug seinen grünen Rock nicht.
»Nein, ich bin ein verdammter Chinese«, bellte Sharpe. Der Kahn schlug gegen die Seite des Kanonenboots, und Sharpe blickte zu dem noch sehr jungen Navy Lieutenant auf. »Wer sind Sie?«
»Lieutenant Davies, ich habe hier das Kommando.«
»Ich bin Captain Sharpe, das ist Hauptmann Vicente von der portugiesischen Armee, und der große Bursche dort ist Sergeant Harper. Die Damen stelle ich Ihnen später vor. Was wir brauchen, falls Sie so freundlich sein wollen, Lieutenant, wäre anständiger Tee.«
Sie stiegen an Bord. Sharpe salutierte vor Davies, obwohl der nicht älter als neunzehn sein konnte und lediglich Lieutenant war. Dennoch stand er im Rang höher als Sharpe, da er ein Schiff Seiner Majestät befehligte, was ihn einem Major der Armee im Rang gleichstellte. Die Seeleute jubelten ein bisschen, als Joana und Sarah in ihren durchnässten Hosen über die Reling kletterten.
»Ruhe an Deck«, knurrte Davies, und die Seeleute verfielen augenblicklich in Schweigen. »Kanonen sichern«, befahl Davies. »Das Boot festmachen. Schnell, schnell!« Er
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