Sharpes Flucht
und schätzte die Uhrzeit ein. »Wir werden noch eine Stunde hierbleiben«, sagte er. »Dann fahren wir nach Alhandra. Dort setzen wir Sie am Ufer ab.« Er blickte hinauf zum Union Jack, der lustlos an der Spitze des Mastes flatterte. »Verdammter Südwind«, sagte er und brachte damit zum Ausdruck, dass er den Fluss nicht hinuntersegeln konnte, sondern die Strömung ausnutzen musste.
»Sir!«, rief ein Mann aus dem Mars. »Boot in Sicht, Sir!«
»Wo?«
Der Mann zeigte es ihnen, und Sharpe holte sein Fernglas heraus und suchte in westlicher Richtung. Durch schimmernden Nebel sah er auf einmal ein kleines Boot. Von den Männern im Boot konnte er lediglich die Köpfe ausmachen.
»Achtern Leinen los!«, schrie Davies.
Die Squirrel schwang an ihrem Vorderanker herum, die Strömung trieb sie, bis die Geschütze ausgerichtet waren.
»Feuern Sie einen Warnschuss ab, sobald Sie können!«, befahl Davies.
Eine Pause entstand, während die Squirrel in der Strömung stand, dann feuerte eine Kanone, und dichter Rauch stieg auf. Die zweite Kanone feuerte beinahe sofort darauf, ihre Kugel zischte über die niedrige Insel und platschte vor dem fliehenden Boot ins Wasser.
»Sie halten nicht an, Sir!«, rief der Mann vom Mars.
»Schießen Sie auf sie, Mister Combes! Direkt auf sie!«
»Aye, aye, Sir!«
Die nächste Kugel traf die Insel, prallte ab und flog hoch über das fliehende Boot hinweg, das mit der Strömung des Flusses eilig dahintrieb, wobei die Ebbe ihm zu Hilfe kam. Sharpe bezweifelte, dass das Kanonenfeuer das Boot aufhalten würde. Er kletterte die Wanten ein Stück weit hinauf und benutzte sein Fernglas, doch er konnte von den Männern im Boot nur wenig erkennen, da sie im Nebel verborgen waren. Aber es mussten die Ferreira-Brüder sein. Wer sollte es sonst sein? Zudem glaubte er, auch wenn er sich nicht ganz sicher sein konnte, dass einer der Männer in dem Boot unnatürlich groß war. Ferragus, dachte er.
»Lieutenant!«, rief er.
»Mister Sharpe?«
»In diesem Boot befinden sich zwei Männer, die unbedingt gefangen genommen werden müssen. Es ist meine Pflicht.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sharpes Pflicht war es, zu seinen Pflichten zurückzukehren, nicht einer Fehde hinterherzurennen, aber das konnte Davies nicht wissen. »Können Sie uns eines Ihrer Boote geben, um sie zu verfolgen?«
Davies zögerte, er fragte sich, ob er seine Befehle verletzte, wenn er einem solchen Wunsch stattgab. »Die Kanonenboote weiter unten auf dem Fluss werden sie aufhalten«, ließ er Sharpe wissen.
»Aber sie werden nicht wissen, dass die Männer gesucht werden«, entgegnete Sharpe, dann hielt er inne, während die Bugkanone der Squirrel feuerte und wiederum ihr Ziel verfehlte. »Außerdem werden sie vermutlich ans Ufer fliehen, noch ehe sie auf Ihre anderen Boote stoßen. Und wenn das geschieht, müssen wir ebenfalls ans Ufer gesetzt werden, um sie zu verfolgen.«
Davies dachte eine weitere Sekunde nach, sah, dass das flüchtige Boot beinahe völlig im Nebel verschwunden war, und wandte sich an Midshipman Braithwaite. »Das Beiboot, Mister Braithwaite. Schnell jetzt!« Er wandte sich wieder an Sharpe und sagte: »Die Damen bleiben hier.« Es war keine Frage.
»Das werden wir nicht tun«, erwiderte Sarah entschlossen und schulterte ihre französische Muskete. »Wir sind gemeinsam bis hierhergekommen, und wir werden diese Sache gemeinsam zu Ende bringen.«
Eine Sekunde lang sah es aus, als wollte Davies dagegen aufbegehren, dann aber gelangte er zu dem Schluss, dass es ihm das Leben erleichterte, wenn all seine ungebetenen Gäste von Bord der Squirrel verschwanden. Die Bugkanone feuerte noch ein letztes Mal, und Rauch wallte über das Deck. »Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen«, sagte Davies.
Und dann waren sie von Bord und begannen die Verfolgung.
KAPITEL 12
Marschall André Masséna fühlte sich wie betäubt. Er sagte nichts, sondern starrte nur. Es war kurz nach Sonnenaufgang, der Tag, an dem seine ersten Patrouillen die britischen und portugiesischen Befestigungen erreicht hatten, und jetzt hockte er hinter einer niedrigen Steinmauer, auf der sein Fernglas ruhte, und führte das Glas langsam die Hügelkette im Süden entlang. Überall sah er Bastionen, Geschütze, Mauern, Barrikaden, weitere Geschütze, Männer, Telegrafenstationen, Fahnenmasten. Überall.
Er hatte geplant, die Siegesfeierlichkeiten in Lissabon abzuhalten. Es gab dort einen hübschen großen Platz am Ufer des Tajo, wo man die
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