Sharpes Weihnacht
das Pferd von seinem dem Untergang geweihten Fort weg. Eine halbe Meile die Straße hinauf hielt er noch einmal an, drehte sich um und schaute zu, wie sich die Lunten zu den Sprengladungen in den Magazinen durchbrannten. Er wartete, betrachtete das Fort, das ihm so lange ein Heim gewesen war, und fragte sich, ob die Lunten vielleicht verloschen waren. Doch dann wurde die Nacht von einem grellen blutroten Licht erhellt, und einen Augenblick später hallten Explosionen durch die feuchte Dunkelheit. Flammen und Rauch quollen zwischen den Mauern hervor, als die schweren Geschütze aus ihren Stellungen gerissen wurden. Glühende Splitter flogen in den Himmel hinauf, landeten im Wintergras und entfachten kleine Feuer. Dann kehrte wieder Stille ein, und nur noch Flammen waren zu sehen. Ochagavia war regelrecht ausgeweidet worden. Und wieder habe ich versagt, dachte Gudin und betrachtete das Feuer.
»Wenn mein Adler verloren geht«, sagte Colonel Caillou, der noch einmal zu Gudin zurückgeritten war, »dann sind Sie schuld daran, Gudin.« Er war noch immer wütend darüber, dass sich die Frauen und Kinder der Kolonne hatten anschließen dürfen.
»Dann sollten Sie lieber beten, dass die Briten die Straße nicht gesperrt haben«, erwiderte Gudin. Das Fort war inzwischen nur noch ein rot glühender Trümmerhaufen.
»Ich mache mir mehr Gedanken über die Guerilleros als über die Briten«, schnaubte Caillou. »Sollten die Briten auf der Straße sein, wird Général Picard ihnen in den Rücken fallen, und wir werden sie zwischen uns zermalmen.«
Das war zumindest der Plan. Général Picard hatte sich von St. Jean Pied-de-Port nach Süden in Marsch gesetzt. Er würde die Pyrenäen auf französischer Seite hinaufklettern und sicherstellen, dass der Pass für Gudins Männer offen war. Gudin musste nur die vierzig Kilometer auf der quälenden Winterstraße überleben, die sich von Ochagavia bis zu dem Pass hinauf wand, wo Général Picard auf sie wartete.
An einem elenden Ort hoch oben in den Bergen, einem Ort mit Namen Irati.
»So schlimm ist es hier doch gar nicht«, bemerkte Sharpe, und tatsächlich, im Licht der Abenddämmerung hatte Irati etwas Pittoreskes. Es war ein Dorf voller kleiner Steinhäuser, eigentlich mehr Hütten, mit steinbedeckten Dächern, auf denen Moos wuchs. Die Häuser lagen in einem geschützten Tal an der Kreuzung zweier Bergbäche und drängten sich um eine kleine Kirche und eine große Taverne, die Casa Alta, die jedem Schutz bot, der über den Bergpass wollte. »Trotzdem verstehe ich nicht, warum jemand hier leben will«, fügte Sharpe hinzu.
»Die Leute hier sind größtenteils Schäfer«, erklärte Captain Peter d’Alembord.
»Schäfer, hm«, sagte Sharpe. »Das passt ja zu Weihnachten. Ich erinnere mich da an was mit Schäfern – mit Schäfern und weisen Männern. Das stimmt doch, oder?«
»In der Tat, Sir«, erwiderte d’Alembord. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass Sharpe keinerlei Bildung genossen hatte. Lesen hatte Sharpe als Gefangener in Indien gelernt und den Rest dessen, was er wusste, hatte er sich in seiner Zeit bei der Armee angeeignet.
»Im Waisenhaus hat uns immer so ein Kerl die Weihnachtsgeschichte vorgelesen«, erinnerte sich Sharpe. »Ein großer, fetter Kerl war das, mit komischem Schnurrbart. Er sah ein wenig wie der Sergeant aus, der in Salamanca die Kartätsche in den Bauch bekommen hat. Wir mussten immer ganz ruhig dasitzen und zuhören, und wenn einer von uns gegähnt hat, ist der Fettsack aufgesprungen und hat demjenigen die Heilige Schrift um die Ohren gehauen. Im einen Augenblick herrschte noch Frieden auf Erden, und im nächsten flog man mit dicken Ohren durch den Raum.«
»Aber zumindest haben Sie so die Heilige Schrift gelernt«, bemerkte d’Alembord.
»Ich habe Stehlen gelernt«, erklärte Sharpe fröhlich. »Ich habe gelernt, wie man jemandem die Kehle durchschneidet und ihm die Börse klaut. Alles nützliche Lektionen, Dally. Was die Heilige Schrift betrifft, so habe ich die meisten Geschichten daraus in Indien gelernt. Dort habe ich mit einem schottischen Colonel zusammengearbeitet, der ständig die Nase in der Bibel hatte.« Die Erinnerung ließ Sharpe lächeln. Er marschierte nach Norden und stieg die Straße hinauf, die von Irati zur nicht weit entfernten französischen Grenze führte. Südlich des Dorfes hatte er bereits eine Stelle gefunden, wo sein Bataillon die fliehende Garnison aufhalten konnte, und jetzt wollte er
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