Shelter Bay - 02 - Furienlied
war. Ihm schoss sofort Kirk durch den Kopf.
Aber warum sollte er das tun?
Gott, wer kann schon alles erklären, was der Typ anstellt?, überlegte Will hin und her.
Kirk hatte die Flöte schon einmal gestohlen und sie benutzt, um die Sirenen zu rufen. Will fragte sich, ob Kirk es erneut getan hatte, und ein abscheuliches Gefühl von Furcht stieg in ihm auf. Aber die Seekrieger sind tot, versuchte er, sich zu beruhigen. Ich hab gesehen, wie sie in dem Feuer in der Bucht gestorben sind.
Dennoch gefiel es Will überhaupt nicht, dass die Flöte offen auf seinem Schreibtisch lag. Ihm fiel das Wort wieder ein, das auf seinem Spiegel gestanden hatte: Rache. Er hatte es als Streich, den ihm seine Fantasie gespielt hatte, abgetan. Aber die Flöte bildete er sich nicht ein. Und den Hund hatte er sich definitiv auch nicht eingebildet.
Tropfen für Tropfen sammelte sich zu einer Pfütze. Will hatte das ungute Gefühl, dass etwas Böses dabei war, sich zu erheben. Etwas, das mit Zoe zusammenhing.
Also setzte er sich auf sein Bett und beobachtete ihr Haus. Es sah aus wie immer. Will hatte keine Ahnung, was er erwartet hatte – eine dunkle Wolke, eine finstere Aura. Es war nur ein altes Bauernhaus, mit einer von Herbstlaub gesprenkelten Veranda und einem Vorgarten, in dem einige Chrysanthemen blühten. Alles war wie gewohnt, und das fand er irgendwie tröstlich.
Deshalb blieb er einfach auf seinem Bett sitzen und behielt das Haus die folgende Stunde über im Auge. Und deshalb kehrte er nach dem Abendessen an seinen Platz zurück und sah weiter hinüber, bis es dunkel wurde und der Mond aufging. Er sah hinüber, bis Zoes Licht ausging und nur noch eine einzelne Lampe im Erdgeschoss die Dunkelheit der Nacht durchbrach – ein Zeichen, dass Johnny noch auf war und an einem Song arbeitete.
Will sah hinüber, auch wenn er sich nicht sicher war, wonach er Ausschau hielt. Er beobachtete das Haus unter den kalten, wunderschönen Sternen und wandte die Augen nicht ab, nicht einmal, um zu schlafen.
So blieb er lange sitzen. Schließlich fiel ihm ein, dass er für die Schule noch etwas lesen musste. Er kramte den Roman hervor und überflog die erste Seite, wobei er nach jedem Absatz aufblickte und nach Zoes Haus sah. Die ständige Ablenkung machte es ihm jedoch nicht leicht, sich auf den Text zu konzentrieren. Die Buchstaben wollten sich einfach nicht zu Wörtern zusammenfügen. Je mehr er versuchte, sich zu konzentrieren, desto weiter löste sich ihre Bedeutung vor seinen Augen auf. Selbst wenn er sich ein einzelnes Wort herauspickte: agil. War das überhaupt ein Wort? Ag. II. A. Gil. Agi. L. Er sah es so lange an, bis das Alphabet vor ihm nutzlos auseinanderfiel.
Will warf das Buch aufs Bett und blickte aus dem Fenster, beobachtete das Licht in Johnnys Fenster, wie es golden auf dem kleinen Haufen verfärbter Ahornblätter unter dem Baum vor Zoes Fenster verharrte. Der Blätterhaufen war noch lange nicht fertig, Johnny musste ihn angefangen und dann in einem Moment der Ablenkung vergessen haben. Will konnte sich nur allzu gut daran erinnern, wie es gewesen war, in einen solchen Haufen zu springen. Er hatte mit Tim gespielt und die bunten Blätter mit seinen Beinen aufgewirbelt, während Guernsey wie verrückt gebellt und sich auf dem Rücken gewälzt hatte. Will strich über den Rand seines uralten Quilts. Der Verlust seiner Hündin schmerzte ihn immer noch. Guernsey war dreizehn gewesen, als sie starb. Will und Tim hatten den Welpen bekommen, als Will fünf war. Guernsey war solange er zurückdenken konnte ein Teil seines Lebens gewesen.
Er erinnerte sich noch daran, wie sie sie ausgesucht hatten, als sie noch ein tapsiger, neugieriger Welpe war. Die Hündin eines Freundes hatte Junge gehabt und Tim durfte sich einen aussuchen, den sie mit nach Hause nehmen würden. Will durfte den Namen auswählen. Irgendwie schien es, als sei dabei eine dauerhafte Verbindung zwischen Will und Guernsey entstanden, und von da an war sie seine Hündin gewesen. Sie schlief auf seinem Bett und folgte ihm durchs ganze Haus. Tim hatte sich oft darüber beschwert, aber selbst wenn er den schlafenden Welpen hochnahm und auf sein eigenes Bett legte, wachte sie irgendwann auf, sprang hinunter und kletterte zurück auf Wills Bett.
Ein leises Klirren wie von brechendem Eis drängte sich in Wills Gedanken. Dann folgte ein gedämpftes Krachen. Die Waschbären hecken wieder irgendwas aus, dachte Will, doch dann hörte er einen unterdrückten Fluch. Er sah
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