Shelter Bay - 02 - Furienlied
ihren Füßen.
Sie versuchte zu schreien, stellte jedoch fest, dass sie so stumm war wie die Menge, die sich versammelt hatte, um sie brennen zu sehen.
»Onkel Carl?«, rief Will an der Haustür. In den vergangenen Tagen hatte er mehrfach versucht, seinen Onkel alleine anzutreffen, aber wann immer es Will gelang, fing Carl an, über irgendwelche Nichtigkeiten zu faseln, oder fand eine Ausrede, um so schnell wie möglich zu verschwinden. Will hatte schließlich eingesehen, dass er seinen Onkel festsetzen und zwingen musste, ihm seine Fragen zu beantworten.
»Herein!«, dröhnte ihm eine Stimme aus dem Inneren des Hauses entgegen.
Will zog das Fliegengitter auf – die Haustür selbst stand sperrangelweit offen – und betrat das Wohnzimmer. Carl kam aus der Küche und rieb sich die linke Hand an einem Handtuch trocken. Seine rechte Hand steckte immer noch in einem Verband. Er wirkte überrascht und möglicherweise nicht allzu erfreut, seinen Neffen zu sehen. »Will. Was führt dich zu mir?«
»Wollte bloß ein bisschen abhängen.«
Carl stand mit hochgezogenen Augenbrauen da. »Oh. Okay, äh …« Er deutete in Richtung Küche und Will folgte ihm. Er setzte sich an den winzigen Tisch, während Carl gegenüber gerade etwas in den Ofen schob.
»Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst«, bemerkte Will.
»Unglückliche Junggesellen wissen immer, wie man kocht.« Carl war seit acht Jahren geschieden. Will wusste, dass er seine beiden Töchter nicht oft zu Gesicht bekam. Carls Exfrau war nicht die Sorte Frau, mit der man in gegenseitigem Einvernehmen auseinanderging. Sie neigte eher zum Zerreißen und Verbrennen.
Carl klappte die Ofentür langsam zu, dann faltete er das blau-gelb gemusterte Handtuch und hängte es über den Griff. Er sah zu Boden. »Ähm, Will. Wegen neulich Nacht. Es … Ich weiß, mein Verhalten hat dich verletzt und –«
»Hast du den Mann gekannt?«
Carl schien überrascht. »Welchen Mann?«
»Auf dem Polizeirevier. Der gesungen hat.«
»Nein.« Er presste die Lippen zusammen, als vertraue er sich selbst nicht genug, um noch mehr zu sagen.
»Nein, aber …?«, bohrte Will.
Carl überquerte das gelbe Linoleum und setzte sich Will gegenüber an den Tisch. »Ich denke, ich kannte das Lied, das er gesungen hat.«
»Du schienst deswegen ziemlich durch den Wind.«
»Will, ich will nicht darüber reden.«
»Ich weiß, Onkel Carl. Glaub mir, ich würde dich das nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.«
Carls Stuhl kreischte, als er vom Tisch wegrückte, aber er stand nicht auf. Stattdessen ging sein Blick in die Ferne – irgendwohin, fernab dessen, was Will sehen konnte. »Es ist nur – früher habe ich oft diese Lieder gehört.«
Will kam es vor, als habe ihm jemand die Luft aus der Lunge gesogen. Er öffnete den Mund, aber nichts – kein Wort, kein Atem – kam heraus.
»Damals habe ich angefangen zu trinken. Ich habe bis zur Bewusstlosigkeit getrunken, nur damit dieses Lied endlich verschwand. Und dann … keine Ahnung … dann hab ich mit dem Trinken aufgehört, und alles kehrte sich um … und das Lied verschwand von selbst. Und dann, neulich Nacht, dachte ich, ich hätte es wieder gehört.« Carl blickte auf seine verletzte Hand hinab. »Aber es hat aufgehört.« Er sah Will an. »Ich werde nicht wieder trinken, Will. Ich verspreche es dir.«
Es kostete Will eine enorme Anstrengung zu nicken. Er holte tief Luft. »Okay.« Das Wort war nicht mehr als ein Flüstern, wie das Geräusch einer Drachenschnur im Wind.
Diese Lieder. Will brauchte nicht zu fragen, welches Lied. Er wusste es.
Das Lied einer Seekriegerin.
Aber welcher Seekriegerin? Kalypso? Asia? Oder jemand anderes? Konnte eine – oder mehrere – von ihnen das Feuer in der Bucht überlebt haben?
Und was wollten sie jetzt?
Will tat das, was er immer tat, wenn er Fragen hatte, auf die er eine Antwort brauchte. Er simste Angus.
»Willkommen im Reich des Bösen«, sagte Angus grinsend, als Will das Café betrat. Es handelte sich um die Franchisefiliale einer landesweiten Kette und die Einwohner von Shelter Bay waren außer sich gewesen, als der Eigentümer die Eröffnung in der Innenstadt angekündigt hatte. Sie hatte trotzdem eröffnet und die Sommergäste waren in Scharen herbeigeströmt, und nun, fünf Jahre später, schien dieses Café genauso ein Wahrzeichen der Stadt zu sein wie das Rathaus. Trotzdem mied Will diesen Ort normalerweise. Ein Stück die Straße runter war ein gutes einheimisches Café.
Weitere Kostenlose Bücher