Shelter Bay - 02 - Furienlied
du.
Deinem Hass entkam keiner, zogst alle hinab,
Auch die mächtigsten Männer, in ein nasses Grab,
Ja, auch mich trifft dies Schicksal, du schonst mich nicht, hei di ho,
So bleibt mir nichts And’res, ich warte auf dich.
Will blieb bis weit nach elf im Bett liegen. Er war um fünf aufgewacht und hatte den Regen gegen sein Fenster prasseln gehört-, hatte es aber geschafft, noch einmal einzuschlafen. Jetzt waren die Wolken weitergezogen und er konnte den blauen Himmel zwischen den roten und gelben Ahornblättern vor seinem Fenster hervorlugen sehen.
Er holte tief Luft, um das ungute Gefühl abzuschütteln, das sich am Abend zuvor in ihm ausgebreitet und ihn bis in seine Träume begleitet hatte. Selbst jetzt war er immer noch wütend. Aber warum? Warum?
Rein vom Verstand her konnte Will nachvollziehen, warum Carl ihm nichts von der Sache mit Ezekiel Worstler erzählt hatte. Gott, wer würde das schon tun? Es klang total verrückt. Nur, dass es eben nicht verrückt klang. Vielleicht, weil er überall nach Anzeichen für Seekrieger gesucht hatte, nach Hinweisen auf Meerjungfrauen und Sirenen. Vielleicht, weil Zoe Wasser zum Brennen gebracht hatte.
Es war, als hätten die Wände, die sein Leben strukturierten, die Grenzen seines Bewusstseins, zu schmelzen begonnen oder sich zumindest in etwas weniger Undurchlässiges verwandelt: Fenster, die ihm einen Blick auf neue Realitäten jenseits seiner eigenen erlaubten.
Der ahornsirupsüße Duft vom Gebäck seiner Mutter erfüllte noch immer das Haus und Will dachte zurück an all die vielen Morgen, an denen er und Tim scherzend und lachend zusammen am Frühstückstisch gesessen hatten. Tim hatte morgens gerne Würstchen gegessen – »Fleisch zum Frühstück ist männlich«, pflegte er zu sagen – und hatte immer eins für Will mitgebraten, das Will dann zur begeisterten Abscheu seines Bruders in Sirup ertränkt hatte.
Sein Brustkorb fühlte sich hohl an, wie ein leeres Fass. Er vermisste seinen Bruder. Er hatte so viel verloren – seinen Hund, Asia –, aber seinen Bruder zu verlieren, war wie ein Bein zu verlieren. Es war, wie einen Teil von sich selbst zu verlieren.
Will schlüpfte in seine Jeans und ein ausgeblichenes altes Sweatshirt. Er fuhr sich mit der Hand durch sein verstrubbeltes Haar und machte einen großen Bogen um den Spiegel. Er schob die Füße in seine Schuhe, während er den Flur entlangschlurfte, dann polterte er in die Küche.
Sie war leer, also schnappte sich Will einen Muffin und trank in Ruhe ein Glas Milch. Er gestand es sich nur widerwillig ein, aber er war erleichtert, dass Zoe nicht da war. Will wusste, er schuldete ihr eine Entschuldigung, aber er hatte nicht das Gefühl, dass er eine zustande bringen würde. Noch nicht. Es war seltsam, jemandem so nahe zu sein – sowohl körperlich als auch emotional – und sich gleichzeitig so weit entfernt zu fühlen.
Glück ist vergänglich, dachte er.
Will stellte sein Geschirr in die Spüle und ging durch die Hintertür nach draußen. Er hielt an der Scheune an, um die Zwergziegen mit ihrem langen, zottigen Fell und ihren seltsamen Augen zu füttern. Will streute etwas Getreide für die Hühner aus und sah zu, wie sie sich um die Körner stritten. Der Hahn warf sich in die Brust und stolzierte auf und ab, zu beschäftigt mit seiner Eitelkeit, um sich mit dem Futter abzugeben. Will warf ein paar Extrakörner in seine Richtung. Der Hahn – mit seinen glänzenden schwarzen Federn und dem langen, schimmernden grünen Schwanz – amüsierte ihn.
»Du bist ein Idiot«, sagte Will zu dem Vogel, der nun doch nach etwas pickte. »Aber bei den Ladys hast du echt den Bogen raus.«
Schlamm sog und klumpte an seinen Schuhen, als er zum Gewächshaus ging, um den Salat zu wässern. Nachdem er alles erledigt hatte, machte Will sich auf den Weg zurück zur Garage, um sein Motorrad zu holen. Mit einem Ast kratzte er den Dreck von seinen Schuhen, bevor er die saubere Garage betrat. Sein Bike lehnte in einer Ecke und Will schnappte sich einen Helm, dann streichelte er das glatte Leder des Sitzes. Er erinnerte sich, wie Tim ihm geholfen hatte, genügend Geld für das Bike zu verdienen. Wann immer irgendwo etwas angefallen war – Gärtnern, Lebensmittel ausliefern, egal was –, hatte Tim seinen Bruder empfohlen. Und Tim war sogar mitgekommen, um ihm bei den Kaufverhandlungen zu helfen. »Überlass mir einfach das Reden«, hatte er ihm geraten, und genau das hatte Will getan, obwohl sein Herz wie wild
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