Shelter Bay - 02 - Furienlied
forderten mit ihrer Arroganz jeden heraus, sich ihnen zu nähern. Tim hatte immer davon geträumt, in einem wunderschönen Haus mit Meerblick zu wohnen.
»Wir wohnen in einem wunderschönen Haus mit Meerblick«, hatte Will jedes Mal beharrt, aber Tim hatte nur die Augen verdreht.
»Wenn du das schön nennst, sollte ich vielleicht besser mal mit dir zum Augenarzt gehen. Heruntergekommen trifft es eher. Ach, na ja, ich denke, wir bleiben uns treu.«
Will hatte gelacht. »Treu bleiben, na klar.«
Treu bleiben, na klar.
Will lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ sich von den kleinen Wellen schaukeln. Er versuchte, ein Bild von Tim heraufzubeschwören, und musste beunruhigt feststellen, dass es ihm nicht gelang. Er sah schwarzes Haar aufblitzen, lachende dunkle Augen, aber es war mehr ein Gefühl als ein klares Bild. Er erinnerte sich, wie es war, mit Tim zusammen zu sein, aber die genaue Form seines Gesichts, der Schwung seines Unterkiefers, die großen Hände waren dabei zu verblassen.
Tim hatte begonnen zu verschwinden, sich sogar in seiner Erinnerung aufzulösen.
Will war immer davon ausgegangen, dass Tim die zweite Hälfte seines Gedächtnisses bilden würde. Er würde sich an all die Weihnachtstage erinnern und an den Namen des Arztes von ihrem Besuch im Krankenhaus, als Tim Will in einem brüderlichen Ringkampf versehentlich die Nase gebrochen hatte. Mit ihm würde er Geschichten über ihre Eltern austauschen, wenn diese nicht mehr wären. Aber Tim hatte ihn allein gelassen, und nun war er der einzige verbliebene Wächter ihrer gemeinsamen Vergangenheit.
Das Boot ruckte plötzlich und er öffnete die Augen. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und das Meer hatte sich überraschend schnell verdunkelt. Die Gewitterwolken zogen mit hoher Geschwindigkeit herauf und das Wasser war aufgewühlt. Will war nicht weit hinausgefahren, aber er musste sich beeilen, wenn er rechtzeitig vor dem hereinbrechenden Sturm zurück in den Hafen gelangen wollte.
Fluchend kreuzte Will nach Steuerbord, um das Boot in den sicheren Hafen zurückzulenken. Über ihm waren die Wolken bestrebt, ihren dunklen Vorhang am Rande des Horizonts zuzuziehen, während der Wind zunahm und den Wellen Schaumkronen aufsetzte. Der Wind blies zu seinen Gunsten, sodass das Boot, als sich die Brise in den Segeln fing, nur so über das Wasser flog.
Die Takelage klirrte und über ihm kreischte eine einzelne Möwe, während sie sich mit ihm ein Rennen zur Küste lieferte.
Auf seinem beschädigten Ohr nahm Will schwach das monotone Heulen des auffrischenden Windes wahr. Das Heulen hielt an, wurde lauter, und Will beschlich ein ungutes Gefühl.
Er sah hinaus zum dunklen Horizont. Dort, klein wie ein Sprenkel, war eine Gestalt – ein menschlicher Kopf, der halb aus dem Wasser ragte.
Eine Boje, versicherte er sich selbst, aber er glaubte nicht daran. Angst zerrte an ihm wie ein Haken aus Stahl. Eine Welle türmte sich zwischen ihm und der Gestalt auf und als sie abebbte, war die Seekriegerin verschwunden.
Die Wellen wurden stärker und Will rannte zum Hauptmast. Die Vagabond arbeitete sich eine große Welle hinauf, dann stürzte sie in die Tiefe. Ein Regentropfen spritzte ihm auf die Wange, dann traf ihn einer im Auge und einen Moment später peitschte der Regen auf ihn und das Boot herab. Will hatte eine Sturmfront noch nie so schnell heraufziehen gesehen, auch wenn er aus den Erzählungen der Fischer und anderen Segler wusste, dass es passieren konnte. Sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren und er fühlte sich, als werde er gegen eine Mauer aus Panik gedrückt, sodass ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde.
Die Vagabond schlingerte wie betrunken, als eine Welle von Backbord in sie hineinkrachte. Wills Füße rutschten über die gewachsten Holzbohlen und er klammerte sich an den Mast, um nicht über Bord zu gehen. Er hievte sich wieder auf die Füße, aber einen Moment später verpasste ihnen eine weitere Welle eine Breitseite. Das Boot schlingerte und kenterte. Will tauchte unter, um dem Mastbaum auszuweichen. Bei dem stürmischen Wetter musste er höllisch aufpassen, um sich nicht noch eine Kopfverletzung zuzuziehen.
Als er wieder auftauchte, peitschte der Regen auf ihn herab wie eine entfesselte Bestie. Er schaffte es gerade eben, gierig einen Mundvoll Sauerstoff zu nehmen, bevor eine Wand aus Wasser gnadenlos über ihn hereinbrach. Er kämpfte sich zurück nach oben, aber er schaffte es einfach nicht, an die Oberfläche
Weitere Kostenlose Bücher