Sherlock Holmes - Das ungelöste Rätsel
Namen lernte er nicht. Wenn ich das meiner Frau erzählen würde!
Sie würde es sicherlich nicht glauben und rufen: „Quatsch! Tiere können nicht sprechen. Und eine Seele haben sie auch nicht.“ Wie sehr sich meine holde Gattin da irrte! Vielleicht haben nicht alle Tiere eine Seele, aber Delphine besitzen mit Sicherheit eine.
Wenn die folgenden Ereignisse dafür kein Beweis sind, dann weiß ich nicht!
Der Urlaub bekam Holmes ausgezeichnet. So entspannt wie hier hatte ich ihn in London noch nie erlebt. Sein sonst so blasses, hageres Gesicht war gebräunt, denn er verbrachte wie ich viel Zeit im Freien. Wenn ich zum Fischen hinausruderte, warf er den hässlichen Teppich aus Arberija über die Schulter, griff sich eines der Bücher, die er in der englischen Buchhandlung von Corfu-City erstanden hatte, und trat den viertelstündigen Fußmarsch zu einem Olivenhain an.
„Schon die alten Griechen liebten das Philosophieren in schattigen Hainen. Genau das tue auch ich. Der Teppich ist genau die richtige Unterlage, wegen der vielen harten Felsen.“
„Bis heute Mittag, o phile ! Alter Freund!“
„ Kali tichi , alter Junge. Petri Heil.“
„ Eucharisto ! Danke!“
Stavros’ Haus, das ich schon unser Haus nannte, und das Boot hatte seine im Dorf verheiratete Enkelin Stavroula zusammen mit ihren jüngeren Geschwistern geerbt. Sie bemühte sich jeden Morgen mit ihrer zwölfjährigen Tochter Soumella zu uns hinaus, um sauberzumachen und die gefangenen Fische zuzubereiten. Sogar unsere Wäsche wusch sie. Obwohl sie gerade ihr viertes Kind erwartete, scheute sie diese schwere und unangenehme Arbeit nicht. Sie besaß eine natürliche Intelligenz, gepaart mit rascher Auffassungsgabe. Bereits nach einer Woche konnten wir uns mit ihr recht gut in einem rudimentären Englisch verständigen. Als Stavroula verstanden hatte, dass ich ein iatros , ein Arzt, war, ließ sie mir keine Ruhe mehr.
Während sie das Essen kochte, musste ich neben der Feuerstelle auf dem Hocker Platz nehmen und ihre Fragen beantworten. Besonders Kinderkrankheiten und deren Heilung interessierten sie. Und was sie bei der Geburt ihres nächsten Kindes machen solle. Bei der vorigen Niederkunft hatte sie so viel Blut verloren, dass schon der Priester für die Sterbesakramente geholt worden war.
„Aber ich nicht sterben gewollt“, erklärte sie lachend, so als ob man einfach beschließen könne weiterzuleben. Sie war eine starke Frau.
Ihr Mann konnte sich glücklich schätzen. Soumella, wesentlich schüchterner als die Mutter, saß oder stand dabei und lauschte stumm mit staunenden schwarzen Augen unseren Gesprächen.
Was Holmes und mich allerdings wunderte, war Stavroulas entschieden vorgebrachter Wunsch, uns gegen elf Uhr vormittags zu verlassen, damit sie zur Mittagsstunde zu Hause war. Einen Grund hierfür nannte sie nicht.
„Besser ist“, erklärte sie lediglich. Selbst als wir ihr einen höheren Lohn anboten, war sie nicht bereit, von ihrer Entscheidung abzurücken. Uns sollte es recht sein, denn sie verließ uns nie, ohne uns ein köstliches Mittagsmahl aus Fisch oder Lamm bereitet zu haben. Ihre Kochkunst übertraf die von Mrs Hudson um ein Vielfaches!
Sherlock Holmes wäre freilich nicht Sherlock Holmes gewesen, wenn er einen ganzen Monat wie ein gewöhnlicher Tourist spazieren gegangen oder geschwommen wäre oder geangelt, in einem schattigen Olivenhain auf seinem Teppich liegend gelesen oder auf dem Dach unseres Hauses stehend das Meer beobachtet hätte. Es dauerte nicht einmal eine Woche, da kehrten Stavroula und Soumella, die gerade den Nachhauseweg angetreten hatten, noch einmal mit einem Besucher zurück. Es war kein Patient für mich. Es war ein Klient für meinen Freund, dessen Anwesenheit auf Kerkyra sich natürlich längst herumgesprochen hatte.
„Wir bleiben bis nach Essen“, beschied Stavroula. Sie verging schier vor Neugierde.
Der Klient musste sich tief bücken, um beim Eintreten nicht mit dem Kopf an den Türsturz zu stoßen. Eine rötliche „Schifferfräse“ umrahmte sein wettergegerbtes Gesicht. Abraham Lincoln pflegte ebenfalls diese Barttracht, die Holmes ganz und gar nicht mochte.
„Männer mit Schifferfräse, ohne Oberlippenbart, lassen oft die rechte Ausgeglichenheit vermissen.“
Ob da bei meinem Freund nicht Urteil zu Vorurteil gerann? Die Kleidung des Mannes war ausgezeichnet gepflegt und so gut erhalten, dass er sie kaum getragen haben konnte. Allerdings war sie schon vor mindestens zehn Jahren aus
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