Sherlock Holmes - Der Vampir von Sussex
stand.«
Und wieder schien der Schatten um diesen fremden Mann mir eine endgültigere Gestalt anzunehmen. Ich mußte mir seine Vergangenheit ansehen. Seine Zimmer mußten in aller Heim-lichkeit durchsucht werden. Stackhurst half mir willig, denn in seinem Geist begann sich der gleiche Verdacht zu formen. Wir kamen von unserem Besuch in >The Haven< zurück, in der Hoffnung, daß ein freies Ende eines ganzen verwirrten Knotens schon in unserer Hand lag.
Eine Woche war vorübergegangen. Die polizeiliche Untersuchung hatte nichts erbracht und war vertagt worden, bis neue Beweise erbracht werden würden. Stackhurst hatte sich diskret nach seinem Untergebenen erkundigt und auch sein Zimmer war oberflächlich untersucht worden, aber alles ohne Ergebnis. Ich war noch einmal persönlich den ganzen Grund abgegangen, beides in Gedanken und auch in Wirklichkeit, aber nichts erbrachte neue Hinweise.
In all meinen Berichten findet der Leser keinen Fall, der mich so sehr an die Grenze meiner Möglichkeiten brachte. Nicht einmal meine Einbildung ließ sich eine Erklärung für dieses Rätsel einfallen. Und dann kam der Zwischenfall mit dem Hund.
Meine alte Haushälterin hatte zuerst von dem Gerücht gehört, das wie ein Lauffeuer durch den Ort lief.
»Schreckliche Sache, Sir, das mit Mr. McPhersons Hund«, sagte sie eines Abends.
Ich forciere solche Gespräche nicht, aber meine Aufmerksamkeit war doch geweckt.
»Was war mit Mr. McPhersons Hund?«
»Tot, Sir, starb aus Kummer um seinen Herren.«
»Wer hat Ihnen das erzählt? «
»Wieso, Sir, jeder spricht doch davon. Es war ganz schrecklich mit ihm. Er fraß nicht mehr, die ganze Woche lang nicht. Dann haben ihn heute zwei der jungen Herren von >The Gables< gefunden - unten am Strand, Sir, grad an der Stelle, wo sein Herrchen gestorben ist. «
»Am gleichen Platz?« Diese Worte standen ganz klar in meinem Gedächtnis. Irgendwie nahm der Gedanke Gestalt an, daß sich die Sache zuspitzte. Daß der Hund sterben sollte, hatte mit der schönen, treuen Art von Hunden zu tun. Aber an dem gleichen Platz?! Warum sollte ihm dieser einsame Küstenstreifen so schicksalshaft werden? War es möglich, daß er einer rachsüchtigen Laune zum Opfer gefallen war? War es möglich...? Ja, die Form war zwar erst vage da, aber etwas baute sich in meinem Geist auf. Ein paar Minuten später war ich auf dem Weg zu den >Gables<, wo ich Stackhurst in seinem Arbeitszimmer vorfand. Auf meine Bitte hin schickte er nach Sudbury und Blount, den beiden Studenten, die den Hund gefunden hatten.
»Ja, er lag am Rande der Badebucht«, sagte einer vo n ihnen, »er muß der Spur seines Herren gefolgt sein.«
Ich sah die treue kleine Kreatur, ein Airedale Terrier, der auf dem Teppich in der Halle ausgelegt war. Der Körper war steif und hart, die Augen stachen hervor und die Glieder waren ve rzerrt. In jedem Zug konnte man Qual lesen.
Von >The Gables< wanderte ich zum Badesee. Die Sonne war untergegangen und die Scha tten der großen Felsen lagen schwarz über dem Wasser, das matt schimmerte, als bestünde seine Oberfläche aus Blei. Der Ort war ganz und gar verlassen. Kein Zeichen von Leben, ausgenommen von zwei Seevögeln, die in der Luft kreischten. Im dämmrigen Licht konnte ich vage die Spur des armen kleinen Hundes rund um den Felsen herum ausmachen, auf dem das Handtuch seines Herren gelegen hatte. Während die Schatten um mich immer größer und schwärzer wurden, stand ich lange Zeit in tiefer Meditation da. Mein Geist war von Gedanken erfüllt, die sich gegenseitig jagten. Sie wissen, was es bedeutet, in einem Alptraum zu sein, wo Sie wissen, daß es ein einziges wichtiges Ding gibt und Sie wissen, daß es da ist und sie suchen und suchen, aber sie finden es nicht. Genau das fühlte ich an diesem Abend, als ich an diesem Ort des Todes stand. Schließlich wandte ich mich langsam um und wanderte heim.
Ich hatte gerade das obere Stück des Pfades erreicht, als es plötzlich da war. Wie ein Blitz, der einschlägt, kam mir das, was ich so eifrig und vergeblich gesucht hatte ins Bewußtsein zu-rück. Falls Watsons schriftstellerische Bemühungen nicht umsonst waren, wissen Sie sicher, daß ich über einen immensen Vorrat an leicht abwegigen Fakten verfüge, ohne wissenschaftliches System, aber leicht abrufbar zum Nutzen meiner Arbeit. Mein Gehirn gleicht einer vollgestopften Rumpelkammer, in der sich Kisten und Kasten aller Sorten stapeln, so viele, daß mir manchmal nur eine vage Erinnerung an das
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