Sherlock Holmes - Der verwunschene Schädel
Street 221b geben würde.
Aber so ist der Mensch eben.
Ich machte mir Notizen zur erst am Vortag abgeschlossenen Episode um das Erbe des rätselhaften alten Mr Crumrin, während Holmes wie üblich die druckfrischen Morgenausgaben der Londoner Zeitungen nach interessanten Gesuchen und Anzeigen durchstöberte, um ihnen mit der Schere zu Leibe zu rücken und sie in sein üppiges Archiv wandern zu lassen.
„Öffnen Sie meinem Bruder bitte die Tür, Watson?“, fragte Holmes da auf einmal ohne Vorwarnung, wobei er nicht einmal vom Telegraph aufblickte, den er gerade durchforstete, nachdem er zuvor schon den Star und die Times um diverse Schnipsel erleichtert hatte.
„Hat Ihr Bruder wieder neue Absätze“?, fragte ich in Anlehnung an den letzten Besuch von Mycroft Holmes, als mein Freund seinen beleibteren älteren Bruder buchstäblich an dessen Auftreten erkannt hatte.
„Tatsächlich habe ich Mycroft unten bereits mit dem Kutscher schimpfen hören. Der Mann hat zwischen dem Diogenes Club und der Baker Street wohl kein Schlagloch ausgelassen. Mycroft dürfte demzufolge einen der Neuen erwischt haben. Und Sie wissen ja, wie sehr Mycroft auf seinen Komfort und sein körperliches Wohlbefinden bedacht ist, wenn er schon einmal seinen Club verlässt.“ Zu gern hätte ich Holmes nach dem Sinn dieser letzten Bemerkung gefragt. Trotzdem erhob ich mich nun erst einmal eilig, um Mycrofts Anklopfen zuvorzukommen und somit wenigstens einen Holmes an diesem Morgen zu beeindrucken.
Der stattliche ältere Bruder meines Freundes wusste meine Aufmerksamkeit allerdings nicht zu würdigen und rauschte in unsere Wohnung, ohne mir mehr Beachtung zu schenken als dem livrierten Türöffner oder einem Kleiderständer in seinem verschwiegenen Club in der Pall Mall. „Guten Morgen, Doktor“, war alles, was er zu mir sagte, als er mir Hut und Spazierstock in die Hand drückte, nur um sich sogleich auf meinen Platz zu setzen und seinen Bruder zu bestürmen. „Hallo, Sherlock! Was sprechen die Zeitungen?“
„Berlin ist wie immer sauer auf uns“, erwiderte mein Freund zerstreut. Es tröstete mich, dass er auch seinen Bruder nicht ansah und für ihn die Zeitung ebenfalls nicht senkte – und das, obwohl es meist ein Zeichen drohenden Unheils und schrecklicher Gefahr für das gesamte Empire war, wenn der behäbige Mycroft in der Baker Street erschien. „Die Iren werden auch nicht mehr unsere Freunde und fordern weiterhin ein eigenes Parlament“, fuhr Sherlock Holmes unterdessen fort. „Ach, und dass man das Pugnani-Konzert am Freitag abgesagt hat, betrübt mich wirklich außerordentlich. Eine Schande.“
„Sonst fällt dir nichts auf?“, fragte Mycroft. Er klang beinahe enttäuscht.
„Es würde dich mir als Bruder wirklich näherbringen, wärest du wegen des abgesagten Konzerts hier, Mycroft“, gab mein Mitbewohner gelassen zurück und blätterte demonstrativ eine der großen Seiten um. „Aber ich denke, dass es die Unfälle sind, nicht wahr?“ Die Unfälle. Natürlich! Deshalb auch Holmes’ Bemerkung wegen des Kutschers.
Eigentlich hätte ich selbst darauf kommen müssen. Seit Tagen berichteten die Zeitungen schließlich ausführlich über eine gespenstische Serie schwerer Verkehrsunfälle in der Londoner City, bei denen es etliche Verletzte und nun schon fast ein Dutzend Tote gegeben hatte. In einer Stadt, deren verworrenes Straßennetz täglich von vielen Hundert Pferdefuhrwerken aller Art befahren wurde und die so von ihren Droschken, Omnibussen und Pritschenwagen abhängig war wie die Hauptstadt unseres Empires, konnte eine solche schwarze Serie auf den Hauptverkehrswegen zu einem echten Problem werden. Zumal es diesmal nicht die Dampfwagen betraf, deren Aufkommen nach dem Red Flag Act ohnehin ins Stocken geraten war – es traf nur von Pferden gezogene Gefährte.
In erschreckend großer Zahl, wie gesagt. Nun hatten Häufigkeit und Heftigkeit der Unfälle augenmerklich sogar das Interesse der Regierung geweckt, vertreten durch Holmes’ massigen Bruder, einem der hellsten Köpfe in den Reihen hinter dem Thron unserer geliebten Königin.
„Man ist besorgt, Sherlock“, sagte er gerade. „Noch haben wir kein offizielles Verkehrsministerium – aber wir beschäftigen uns mit diesen Dingen und nehmen sie sehr ernst, das kannst du mir glauben.
Eine gesunde Stadt braucht gesunde Straßen, so wie ein gesunder Körper gesunde Adern braucht. Nicht wahr, Doktor? Und unsere Straßen sind derzeit auf besorgniserregende Weise
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