Sherlock Holmes - Der verwunschene Schädel
keinesfalls ohne ihn gehen“, gab Ghede freundlich zurück. Zeitgleich griffen er und der Baron nach einem Glas und stießen an, während wir anderen dankend ablehnten.
„Zigarre?“, fragte der Baron.
„Aber gerne“, sagte Ghede.
„Ich könnte die Nacht hereinlassen, und ihr Zähne und Klauen geben“, überlegte der Baron und reichte ihm eine Kiste.
„Und ich könnte Eure Knochen zu Staub zermahlen“, erwiderte Ghede. „Ich ziehe euch durch die Nase, ehe die Nacht auch nur niesen kann.“
„Sehr gut, sehr gut.“ Samedi lachte und entzündete seine Zigarre.
Ich musste diesen kindlichen Wettstreit beenden. „Ich denke, es gibt nur einen Weg, dieses Spiel zu entscheiden“, sagte ich und erhob mich. Langsam humpelte ich zu der Nische. Die Goldäugige wollte mir folgen, aber Samedi hielt sie zurück. Ich war Legba – mein Wort hatte Gewicht. Ich spürte ihre Blicke in meinem Rücken, als ich den Vorhang beiseite zog und den alten, gelblichen Schädel ehrfürch-tig aus der Nische nahm.
„Und wie soll es entschieden werden?“, fragte Samedi, als ich den Schädel auf den Tisch stellte.
„Mit einem Spiel“, antwortete ich und teilte die Karten aus.
Zumindest Samedi und Ghede schien das köstlich zu amüsieren.
Ihren Begleitern blieb nichts übrig, als sich zu fügen.
Wir spielten die ganze Nacht, während draußen die Elemente über Pétionville tobten. Ghede war ein geschickter Stratege, und Erzulie
– so schien es – brachte ihm Glück. Der Baron aber war ein würdiger Gegner, und unsere Augen tränten vor Chilis, Zigarrenrauch und Rum, als Ghede in den frühen Morgenstunden seinen letzten Trumpf ausspielte.
„Herzlichen Glückwunsch“, knurrte Samedi und hielt ihm den Schä-
del hin. „Du hast die Nacht gewonnen – nun sieh ihr ins Gesicht!“ Gebannt hielten wir den Atem an. Doch Ghede blickte gelassen in die leeren Höhlen des Schädels und grinste. Was immer Holmes darin gesehen hatte – welche Träume ihm auch den Schlaf raubten –
der loa der Toten fürchtete das Dunkel nicht.
Er nahm den Schädel, dankte und erhob sich. Ich sah den Zorn in den Augen der Goldäugigen, doch abermals hielt Samedi sie zurück.
„Spielschulden, mein Engel“, sagte er. „Es wird neue Spiele geben.“ Ich glaube, Erzulie hätte ihren Triumph gerne noch ausgekostet, aber Ghede zog sie lachend mit sich nach draußen.
Und hier endet mein Bericht. Ich weiß nicht, mit welchen Tricks es den Behörden gelang, Dr. Lafayette am nächsten Tag festzusetzen, und es interessiert mich auch nicht. Seine Begleiterin ist seitdem verschwunden, und ich bete, dass wir uns nie wieder begegnen. Rache ist ein schlechter Antrieb.
Joël aber ist auf dem Weg der Genesung, und Aristide und ich werden ein Fest für das Viertel abhalten.
Ich werde Ihnen nicht erzählen, was ich mit dem Schädel getan habe. Niemand weiß das. Doch auch, wenn der Meisterdetektiv mit leeren Händen nach Hause zurückkehrt, so denke ich, dass das andere, was er auf Haiti verlor, den Verlust mehr als aufwiegt. Heute früh erhielt ich eine flüchtige Mitteilung von ihm, auf die Rücksei-te einer Hotelrechnung gekritzelt: Ich bedaure, nicht persönlich von Ihnen Abschied nehmen zu können, doch dringende Geschäfte verlangen meine Aufmerksamkeit. Ich hoffe, Sie empfanden unsere gemeinsame Zeit als ebenso inspirierend wie ich, und tragen mir den ein oder anderen Fehltritt (den begangen oder nicht begangen zu haben ich aus bekannten Gründen nicht mit Gewissheit ausschließen kann) nicht nach. Meine Diskretion ist Ihnen gewiss. Mit den besten Empfehlungen – PS: Keine Träume. Nachtruhe vorzüglich.
Die Rechnung war auf einen Oscar Sigerson ausgestellt; die Macht der Gewohnheit, nehme ich an.
Was seinen schnauzbärtigen Begleiter betrifft, so frage ich mich, ob er weiß, wie sehr ihm die Rolle der Erzulie entspricht. Es würde mich nicht wundern, wenn sie von ihm Besitz ergriffen hätte, kaum dass er das erste Mal Fuß in den Hafen setzte.
Entrüsten Sie sich nicht, und achten Sie auf Ihren Freund, wohin Sie auch gehen.
DER FALL DER GEBROCHENEN ACHSEN
Christian Endres
Kurz vor meinem Umzug in die Queen Anne Street im Sommer 1902 saßen mein Freund Sherlock Holmes und ich wie so oft am Frühstückstisch beisammen, wobei wir wieder einmal geflissentlich darüber hinwegsahen, dass es aufgrund meiner bevorstehenden Hochzeit und meines damit verbundenen Auszugs nicht mehr viele solcher Momente morgendlicher Kameradschaft in der Baker
Weitere Kostenlose Bücher