Sherlock Holmes - gesammelte Werke
wett.«
»Es gibt nur einen Platz, wohin er geflohen sein kann«, antwortete sie. »Auf einer Insel mitten im großen Sumpf ist eine alte Zinngrube. Dort hielt er seinen Hund und dort hatte er auch allerhand Vorkehrungen getroffen, um für alle Fälle eine Zuflucht zu haben. Dorthin muss er geflohen sein.«
Der Nebel lag dick wie weiße Wolle an den Fensterscheiben. Holmes streckte die Lampe in Richtung Fenster aus und sagte:
»Sehen Sie! Niemand könnte in dieser Nacht einen Weg durch den Grimpener Sumpf finden.«
Sie schlug lachend die Hände zusammen; ihre weißen Zähne blitzten und ihre Augen funkelten in wilder Freude, als sie rief:
»Den Weg hinein findet er vielleicht, aber nie und nimmer den Weg heraus! Wie kann er heute Nacht die Stecken finden, die wir beide, er und ich, zusammen einpflanzten, um den schmalen Fußpfad durch den Morast zu bezeichnen! Oh, hätte ich sie nur heute herausreißen können! Dann allerdings hätte er rettungslos in Ihre Hände fallen müssen.«
Wir sahen ein, dass an eine Verfolgung nicht zu denken war, solange der Nebel über dem Moor lag. Wir ließen daher Lestrade in Merripit House zurück und Holmes und ich gingen mit dem Baronet nach Baskerville Hall. Wir konnten ihm die Wahrheit über die Stapletons nicht länger verschweigen, aber er benahm sich tapfer wie ein Mann, als er erfuhr, dass das Weib, das er geliebt, die Gattin eines Mörders war.
Die Abenteuer dieser Nacht waren jedoch zu viel für seine Nerven gewesen, und ehe der Morgen anbrach, lag er im Delirium eines hohen Fiebers und wir mussten ihn der Pflege des Dr. Mortimer anvertrauen.
Und nun komme ich schnell zum Schluss dieser gewiss nicht alltäglichen Geschichte.
Die Morgensonne des nächsten Tages hatte den dichten Nebel aufgesogen und Mrs Stapleton führte uns zu der Stelle, wo der vom Naturforscher entdeckte schmale Fußweg durch den Sumpf begann. Was für ein Höllenleben die Frau an der Seite des Verbrechers geführt haben musste, das erkannten wir an der freudigen Bereitwilligkeit, womit sie uns auf ihres Gatten Spur brachte. Sie brachte uns bis an den letzten Ausläufer festen Bodens, der sich in Gestalt einer schmalen Halbinsel in den Sumpf hinein erstreckte; von dieser Stelle aus gingen wir allein weiter. Von Zeit zu Zeit bezeichnete ein dünnes Stöckchen die Zickzack-Windungen des Pfades. Nur ein einziges Mal bemerkten wir eine Spur, dass vor uns ein Mensch den gefährlichen Weg gegangen war. Auf einem Büschel Riedgras, der das Untersinken verhindert hatte, lag ein dunkler Gegenstand. Holmes sank bis an den Leib in den Morast, als er, um sich des Gegenstandes zu bemächtigen, abseits des Weges trat; und wären wir nicht da gewesen, hätte sein Fuß niemals wieder festen Grund betreten. Er hielt einen alten schwarzen Schuh empor. Auf dem Innenleder desselben fanden wir den Stempel: ›Meyers, Toronto, Kanada.‹
»Der Fund ist schon ein Moorbad wert!«, rief Holmes. »Es ist der abhanden gekommene Schuh unseres Freundes Sir Henry.«
»Und Stapleton hat ihn auf seiner Flucht an dieser Stelle weggeworfen!«
»Ganz recht. Er behielt ihn in der Hand, nachdem er ihn benutzt hatte, den Hund auf die Fährte zu bringen. Auf der Flucht, als er wusste, dass das Spiel verloren war, hielt er unbewusst den Schuh noch immer in der Hand. Und an dieser Stelle warf er ihn von sich. Wir wissen also wenigstens so viel, dass er bis hierher gekommen ist.«
Aber mehr sollten wir über Stapletons Schicksal überhaupt nicht erfahren; wir waren nur auf Vermutungen angewiesen – Gewissheit erlangten wir nicht. Wir konnten nicht erwarten, Fußspuren im Sumpf zu finden, denn jede Höhlung wurde sofort von dem aus der Tiefe aufsteigenden Morastwasser ausgefüllt und war in wenigen Augenblicken wieder der Oberfläche gleichgemacht. Aber als wir endlich auf festeren Grund kamen, sahen wir uns alle drei eifrig suchend und erwartungsvoll nach Spuren um. Wir fanden keine. Wenn der spurenlose Erdboden uns die Wahrheit sagte, hat Stapleton niemals die Rettungsinsel im Sumpf erreicht, nach der er sich durch Nacht und Nebel hinzutasten versuchte. Irgendwo mitten im großen Grimpener Sumpf, tief in den Morast hinuntergezogen, liegt für immer der Mann mit dem kältesten Mörderherzen begraben.
Dass er auf dem morastumgürteten Eiland oft geweilt haben musste, ergab sich aus mancherlei Anzeichen. Von der verlassenen Zinngrube war noch ein großes Triebrad und ein halbzugeschütteter Schacht übrig; daneben standen verfallende
Weitere Kostenlose Bücher