Sherlock Holmes - gesammelte Werke
wissen?«
»Lassen Sie es gut sein«, rief Holmes lachend, »das gehört zu meinem Geschäft. Ich lege es darauf an, manches zu sehen, was anderen entgeht. Wäre dem nicht so, weshalb kämen Sie zu mir, um sich Rat zu holen?«
»Ich kam zu Ihnen, Mr Holmes, weil Mrs Etherege mir von Ihnen erzählte; Sie fanden ihren Mann so leicht auf, während die Polizei und alle Welt ihn schon für tot hielt. Ach, Mr Holmes, könnten Sie doch auch für mich ein Gleiches tun! Ich bin nicht reich, habe jedoch ein Jahreseinkommen von hundert Pfund außer dem, was ich durch meine Arbeit verdiene. – Alles gäbe ich gern hin, um zu erfahren, was aus Mr Hosmer Angel geworden ist.«
»Warum hatten Sie es plötzlich so furchtbar eilig, zu mir zu kommen?«, fragte Sherlock Holmes, legte die Fingerspitzen aneinander und blickte zur Decke hinauf.
Wieder zeigte sich Staunen und Befremdung auf dem sonst ziemlich nichtssagenden Gesicht der jungen Dame.
»Ja, ich stürzte von zu Hause fort«, sagte sie, »denn ich ärgerte mich über die Gleichgültigkeit, mit welcher Mr Windibank – mein Vater – die ganze Sache aufnahm. Er wollte nicht auf die Polizei, wollte nicht zu Ihnen, und da er gar nichts tat und dabei blieb, die Sache habe wenig auf sich, wurde ich schließlich böse, nahm Hut und Mantel und kam geradewegs zu Ihnen.«
»Ihr Vater?«, fragte Holmes. »Gewiss Ihr Stiefvater – da Sie nicht seinen Namen tragen.«
»Ja, mein Stiefvater. Ich nenne ihn Vater, und doch klingt das komisch, denn er ist nur fünf Jahre und zwei Monate älter als ich.«
»Lebt Ihre Mutter?«
»Die Mutter lebt und ist wohlauf. Sehr entzückt war ich nicht, Mr Holmes, als sie so bald nach Vaters Tod wieder heiratete, und zwar einen Mann, der fast fünfzehn Jahre jünger ist als sie selbst. Mein Vater war Flaschner in Tottenham Court Road und hinterließ ein hübsches Geschäft, das die Mutter mit Mr Hardy, dem ersten Gehilfen, fortführte. Als aber Mr Windibank kam, musste sie das Geschäft verkaufen, denn als Weinreisender stand er auf einer höheren Gesellschaftsstufe. Sie bekamen viertausendsiebenhundert Pfund Sterling für die Firma; mein Vater hätte bei Lebzeiten weit mehr bekommen.«
Statt dass Sherlock Holmes, wie ich erwartete, bei dieser breiten, abschweifenden Erzählung ungeduldig wurde, hörte er mit der größten Aufmerksamkeit zu.
»Stammt Ihr kleines Einkommen aus dem Geschäft?«, fragte er.
»O nein, ich erbte es von meinem Onkel Ned in Auckland. Es sind Neuseeländer Aktien, die viereinhalb Prozent tragen. Die Hinterlassenschaft betrug zweitausendfünfhundert Pfund, aber ich habe nur die Zinsen davon.«
»Bitte erzählen Sie weiter«, meinte Holmes. »Da Sie die hübsche Summe von hundert Pfund einnehmen und noch etwas dazuverdienen, reisen Sie gewiss manchmal zum Vergnügen und genießen Ihr Leben. Mir scheint, eine Dame kann mit einem Einkommen von sechzig Pfund ganz gut leben.«
»Ich käme mit weit weniger aus, Mr Holmes, doch begreifen Sie wohl, dass ich, solange ich zu Hause bin, den Eltern nicht zur Last fallen möchte, und so haben sie die Verfügung über mein Geld, bis ich einmal von ihnen fortkomme. Selbstverständlich nur bis dahin. Mr Windibank zieht meine Zinsen vierteljährlich ein und gibt der Mutter das Geld, denn ich komme mit dem, was ich an der Schreibmaschine verdiene, ganz bequem aus. Ich erhalte zwei Pence für die Seite und bringe meist fünfzehn bis zwanzig Seiten am Tag fertig.«
»Sie haben mir Ihre Lage sehr klar dargelegt«, sagte Holmes. »Dieser Herr ist mein Freund, Dr. Watson, vor dem Sie offen reden können wie vor mir selbst. Bitte erzählen Sie uns von Ihrer Bekanntschaft mit Mr Hosmer Angel.«
Miss Sutherland errötete und zupfte erregt an den Fransen ihrer Jacke. »Ich sah ihn zuerst auf dem Ball der Gastechniker«, sagte sie. »Bei Lebzeiten des Vaters schickten sie uns Karten dazu, und auch nach seinem Tod luden sie uns ein. Mr Windibank wollte uns nicht auf den Ball gehen lassen; er lässt uns nie gern in Gesellschaft gehen. Ganz wütend kann er sich ärgern, wenn ich auch nur einen Ausflug der Sonntagsschule mitmachen möchte. Diesmal aber setzte ich mir in den Kopf, auf den Ball zu gehen; was hatte er denn für ein Recht, mir das zu verbieten? Er erklärte, die Gesellschaft passe nicht für uns, obgleich wir nur Freunde meines Vaters dort trafen. Weiter behauptete er, ich habe nichts anzuziehen, und doch ist mein lila Plüschkleid noch kaum aus dem Schrank gekommen. Aus der Sache
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