Sherlock Holmes - gesammelte Werke
noch einige Fragen stellen, Mr Holmes?«, sagte Lestrade, der während der merkwürdigen Erzählung ein paar Mal den Kopf geschüttelt hatte.
»Eher nicht, bis ich in Blackheath gewesen bin.«
»Sie meinen in Norwood«, verbesserte Lestrade.
»Jawohl; das meinte ich«, erwiderte Holmes mit seinem rätselhaften Lächeln. Lestrade hatte schon häufiger erfahren müssen, als ihm lieb sein mochte, dass dieser scharfe Verstand noch vieles zu durchschauen vermochte, was ihm undurchdringlich erschienen war. Er sah meinen Gefährten neugierig an.
»Ich möchte gleich noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Mr Holmes«, sagte er. »Nun, Mr Farlane, vor der Tür stehen zwei von meinen Leuten und warten auf Sie, der Wagen ist draußen vor dem Haus.« Der unglückliche junge Mensch erhob sich und ging mit einem letzten flehentlichen Blick zur Tür hinaus. Die Schutzleute stiegen mit ihm in die Droschke, während der Inspektor zurückblieb.
Holmes hob die losen Blätter, die den Entwurf des Testaments enthielten, vom Tisch auf und betrachtete sie mit zunehmendem Interesse.
»Dieses Schriftstück gibt uns einige Anhaltspunkte, Mr Lestrade«, sagte er endlich. »Sehen Sie es sich einmal genauer an.« Er schob ihm die Blätter hinüber.
Der also Angeredete sah ihn erstaunt an.
»Ich kann nur die ersten Zeilen, die in der Mitte der zweiten Seite und ein paar am Schluss lesen; die sind ganz deutlich geschrieben«, sagte er, »aber sonst ist die Schrift sehr schlecht und an drei Stellen vollständig unleserlich.«
»Was schließen Sie daraus?«, sagte Holmes.
»Ja, was schließen Sie denn daraus?«
»Dass es in einem Eisenbahnzug geschrieben ist; die gute Schrift bedeutet die Stationen, die schlechte die Fahrt und die sehr schlechte die Durchfahrt durch Kreuzungsstellen. Ein gewandter Sachverständiger würde sofort erkennen, dass der Schreiber auf einer Vorortlinie gefahren ist, weil nur in der unmittelbaren Nähe einer Großstadt die Haltestellen so schnell aufeinanderfolgen. Wenn man annimmt, dass er auf der ganzen Strecke geschrieben hat, muss er einen Schnellzug benutzt haben, der zwischen Norwood und London Bridge nur einmal hält.«
Lestrade fing an zu lachen.
»Sie gehen mir zu weit zurück, wenn Sie Ihre Theorien entwickeln, Mr Holmes. Was hat das mit der Sache zu tun?«
»Nun, es bestätigt und ergänzt die Aussage des jungen Herrn, dass Oldacre das Testament gestern unterwegs aufgesetzt hat. Es ist immerhin auffallend – nicht wahr? –, dass jemand ein so wichtiges Schriftstück im Eisenbahncoupé niederschreibt. Es geht daraus hervor, dass er der Sache keinen besonderen praktischen Wert beilegt. Das kann nur ein Mann tun, der nicht daran denkt, diesen Willen jemals zu verwirklichen.«
»Und doch hat er zu gleicher Zeit damit sein eigenes Todesurteil niedergeschrieben«, versetzte Lestrade.
»Aha, das ist Ihre Ansicht?«
»Meinen Sie das denn nicht auch?«
»Es ist nicht unmöglich; mir ist der ganze Fall aber noch nicht klar.«
»Nicht klar? Na, aber wenn das nicht klar ist, was ist dann überhaupt klar? Hier ist ein junger Mensch, der plötzlich erfährt, dass ihm ein großes Vermögen zufällt, wenn ein bejahrter Mann mit dem Tod abgeht. Was tut er? Er sagt keinem Menschen was, sondern begibt sich eines schönen Abends unter irgendeinem Vorwand zu seinem Gönner. Er wartet, bis die einzige Person, die noch im Haus wohnt, zu Bett gegangen ist, ermordet den alten Mann in seinem einsamen Schlafzimmer, verbrennt die Leiche in einem Holzhaufen und geht dann in ein nahegelegenes Hotel. Die Blutspuren im Zimmer und auch am Stock sind nur unbedeutend. Er hat also vielleicht gar nicht gemerkt, dass Blut geflossen ist, und gehofft, dass nach der Einäscherung des Leichnams jede Spur von der Art des Todes verwischt wäre – Spuren, die aus sprechenden Gründen auf ihn führen mussten. Ist das nicht alles sonnenklar?«
»Ihre Beweisführung, mein lieber Lestrade, kommt mir etwas zu klar vor«, erwiderte Holmes. »Bei Ihren sonstigen vorzüglichen Eigenschaften vermisse ich die nötige Einbildungskraft. Wenn Sie sich nur einen Augenblick in die Lage dieses jungen Mannes versetzen wollten! Würden Sie gerade die Nacht nach der Aufstellung des Testaments wählen, um das Verbrechen zu begehen? Würde es Ihnen nicht gefährlich erscheinen, eine so enge Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen herzustellen? Ferner, würden Sie das Verbrechen in der Nacht ausführen, wo Ihre Anwesenheit im Haus bekannt ist, wo
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