Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Ihnen eine Bedienstete die Tür aufgemacht hat? Und endlich, würden Sie, nachdem Sie sich der schweren Mühe unterzogen hätten, den Leichnam durch Feuer zu zerstören, dann so unvorsichtig sein und Ihren eigenen Stock zum Zeichen, dass Sie der Täter sind, im Haus zurücklassen? Geben Sie nicht zu, Lestrade, dass dies alles recht unwahrscheinlich ist?«
»Was den Stock betrifft, Mr Holmes, so wissen Sie so gut wie ich, dass Verbrecher oft bestürzt sind und Handlungen begehen, die ein besonnener Mensch nicht unternehmen würde. Er fürchtete sich wahrscheinlich, wieder umzukehren, um ihn zu holen. – Geben Sie mir eine andere plausible Erklärung.«
»Ich könnte Ihnen leicht ein halbes Dutzend geben«, sagte Holmes. »Wie denken Sie z. B. über folgende, die wohl möglich, ja gar nicht unwahrscheinlich ist? – Ich stelle Ihnen gern anheim, davon Gebrauch zu machen. Der alte Baumeister zeigte seinem Besucher wertvolle Papiere. Ein Landstreicher geht draußen vorbei und sieht es; die Jalousie war ja nur halb heruntergelassen. Der Anwalt geht dann fort. Der Landstreicher steigt ein! Er ergreift einen Stock, den er gerade stehen sieht, schlägt Oldacre tot und verschwindet, nachdem er die Leiche auf den Holzhaufen geschleppt und ihn angezündet hat.«
»Warum sollte der Landstreicher die Leiche verbrennen?«
»Aus demselben Grund, aus dem es Farlane getan haben soll.«
»Und warum hat der Kerl nichts mitgenommen?«
»Weil es Papiere waren, die er nicht verwerten konnte.«
Lestrade schüttelte den Kopf. Es schien mir aber doch, als ob er von der Richtigkeit seiner eigenen Theorie schon nicht mehr so fest überzeugt wäre wie vorher.
»Nun, Mr Holmes, suchen Sie Ihren Landstreicher, aber solange Sie ihn nicht gefunden haben, will ich mich an meinen Gefangenen halten. Die Zukunft wird ja zeigen, wer Recht behält. Bedenken Sie besonders den Umstand, dass nach unserer bisherigen Kenntnis keinerlei Papiere entwendet sind, und Farlane der einzige Mensch auf Gottes Erde ist, der an ihrer Entfernung kein Interesse hatte, weil er gesetzlicher Erbe war, und sie ihm also unter allen Umständen später zufallen mussten.«
Gegen diese Bemerkung konnte mein Freund nichts einwenden.
»Ich will nicht leugnen, dass Ihre Beweisführung in verschiedener Hinsicht glaubwürdig klingt«, antwortete er. »Ich behaupte nur, dass es auch andere Erklärungen gibt. Wie Sie selbst sagen, wird die Zukunft entscheiden. Guten Morgen! Ich werde übrigens im Laufe des Tages nach Norwood hinunterkommen und sehen, wie weit Sie sind.«
Als der Detektiv hinaus war, stand mein Freund auf und traf seine Vorbereitungen für die nächsten Unternehmungen: Er zeigte die frohe Miene eines Mannes, der sich einer seinen feinen Fähigkeiten entsprechenden Aufgabe gegenübergestellt sieht.
»Mein erster Gang, Watson«, sagte er, indem er in seinen Rock schlüpfte, »ist, wie erwähnt, nach Blackheath.«
»Und warum nicht nach Norwood?«
»Weil in diesem Fall zwei eigentümliche Ereignisse kurz aufeinander gefolgt sind. Die Polizei begeht den Irrtum, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das zweite zu lenken, weil dieses zufällig das Verbrechen vorstellt. Mir ist es jedoch klar, dass der richtige Weg zum Verständnis der zweiten Begebenheit, des Verbrechens, von der ersten, dem auffallenden Testament, seinen Ausgang nehmen muss. Ich will also versuchen, zunächst etwas Licht in den ersten Teil zu bringen, in das so urplötzlich und zugunsten eines so eigentümlichen Erben gemachte Testament. Danach werden wir den zweiten Teil leichter verstehen.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nein, guter Feund, ich glaube Ihre Begleitung heute nicht nötig zu haben. Diese Untersuchung ist gewiss nicht gefährlich, sonst würde ich mich wohl hüten, allein zu gehen. Ich hoffe, Ihnen bei meiner Rückkehr heute Abend die frohe Botschaft bringen zu können, dass ich für den unglücklichen jungen Herrn, der sich meinem Schutz anvertraut hat, etwas ausgerichtet habe.«
Es war spät, als mein Freund wiederkam, und ein einziger Blick auf sein bekümmertes Gesicht zeigte mir, dass die Hoffnungen, mit denen er weggegangen war, sich nicht erfüllt hatten. Ziemlich eine Stunde lang beschäftigte er sich mit seiner Geige, um sein unruhiges Gemüt zu besänftigen. Endlich warf er das Instrument beiseite und gab mir einen ausführlichen Bericht über seine Misserfolge.
»Es geht alles schief, Watson – so schief, wie’s nur gehen kann. Ich habe mir zwar Lestrade gegenüber keine
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